Rezension

Knallharte Realität

Die Nacht gehört dem Drachen - Alexia Casale

Die Nacht gehört dem Drachen
von Alexia Casale

Die 14jährige Evie hat schon viel erlitten. Nun lebt sie bei liebevollen Adoptiveltern, denen sie nach langer Zeit endlich anvertraut, dass sie eine gebrochene Rippe hat, die ständig schmerzt. Als das Knochenstück herausoperiert ist, schnitzt sie mit Hilfe ihres Onkels einen Drachen daraus. Nachts wird er für sie lebendig, macht mit ihr Ausflüge, ermutigt und stärkt sie. Er hilft ihr, in ihrem neuen Leben zurechtzukommen. Denn mehr als die gebrochene Rippe schmerzen die seelischen Wunden. Evie spricht nie darüber, was sie erlebt hat, und einige Aspekte scheint sie auch verdrängt zu haben. Eine grollende Wut bewegt sie, wenn sie an ihre leibliche Mutter denkt, die sie auch in ihren Gedanken nie als Mutter bezeichnet - sie hat ihr Kind mit zu den Großeltern genommen und so den Tätern ausgeliefert. Evie wälzt Rachegedanken, die sie sich selbst nicht eingesteht.

Das Buch ist aus Evies Perspektive geschrieben und lässt den Leser in ihre Gedanken und Gefühle eintauchen. Dabei bleibt vieles unausgesprochen, und der Leser muss sehr aufmerksam folgen, um Zusammenhänge zu verstehen. Diese Perspektive ist konsequent durchgehalten, und man erlebt Evies Alltag durch ihren Filter: Durch ihre traumatischen Erlebnisse ist sie zutiefst misstrauisch, sie kann körperliche Berührungen kaum ertragen und hat das Gefühl, bei ihren beiden kindlich-naiven Freundinnen am Rande zu stehen. So kann sie auch nicht erkennen, dass ein Klassenkamerad in sie verliebt ist, und sie lässt ihn grob abblitzen. Das führt in der Folge zu immer stärkeren Provokationen, bis die Beziehung eskaliert.

Der Schluss lässt viele Fragen offen. Evie hat sich offensichtlich (zum zweiten Mal) aus der Opferrolle befreit, doch was geschehen ist, ist genau wie ihre kindliche Qual ihrer Erinnerung nicht zugänglich. So kann ich den Schluss auch nicht als befreiend erleben, denn eine Verarbeitung ist nicht erfolgt. Dennoch wird eine positive Zukunft angedeutet, denn durch Evies Impuls beginnt ihre Adoptivfamilie, ihre eigenen Verluste aufzuarbeiten, und Evie nimmt sich vor, einer ihrer Freundinnen zumindest etwas von der Vergangenheit zu erzählen.

Dieser Erstlingsroman von Alexia Casale behandelt ein Tabu-Thema, und er tut dies, indem es die Phantasie des Lesers fordert. Das ist gut gemacht und überzeugend, allerdings auch anspruchsvoll. Das Buch hat mich überzeugt bis auf den Schluss - es wirkt so, als sei nun alles auf einem guten Wege, und diese Einschätzung kann ich nicht teilen.

Das Buch steht auf der Nominierungsliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis 2014 in der Sparte "Preis der Jugendjury" - die jugendlichen Leser fühlten sich sehr angesprochen.