Rezension

Leila, die Tochter Josefs

Sibir -

Sibir
von Sabrina Janesch

Bewertet mit 3 Sternen

Zweimal kommen Deutsche aus den Weiten des sowjetischen Großreiches nach Deutschland, nachdem sie als „Feinde“ während der stalinistischen Säuberungen und während des Zweiten Weltkrieges zwangsweise aus ihrer Heimat ins Nirgendwo umgesiedelt worden waren: 1955 kommt die erste Gruppe nach den Verhandlungen Adenauers in Moskau mit den letzten Kriegsgefangenen, 1990 die zweite Gruppe als sogenannte „Spätaussiedler“, nachdem der Eiserne Vorhang gefallen und das Sowjetreich zerbrochen ist.

Das ist der historische Hintergrund für Barbara Janeschs Familienroman, in dem es vor allem um den Vater Josef Ambacher geht, der alle historischen Stationen der Völkerverschiebung mitmacht: als Kind von der Weichsel nach Kasachstan vertrieben, 1955 als Jugendlicher nach Deutschlandgekommen und 1990 mit den restlichen Rückkehrern konfrontiert.

Es wäre ein besserer Roman geworden, wenn die Autorin hier den Kontrast eingezeichnet hätte, in der bemerkenswerten Biographie Josefs und in seinem spannungsreichen Charakter, der zwischen empathischer Mittlerfunktion für seine Mitmenschen bei gleichzeitiger Scheu vor zu viel Begegnung und Nähe changiert und weshalb weder das eine noch das andere gut kann. Begründet wird dies in der Entwurzelungserfahrung und der stets gefährdeten menschlichen Bindung im Stalinismus. Nur die Geschichten bleiben, die ihm zugetragen werden und die er wiedergeben kann.

Der erzählerische Kontrast im Roman wird aber aufgebaut, indem Josef die Coming-of-Age-Erfahrung seiner Tochter Leila gegenübergestellt wird, die „auch eine schwere Kindheit“ gehabt habe, wie sie ihrer Tante einmal entgegenschleudert. Die Kindheiten von Josef und Leila sind aber beim besten Willen nicht gut vergleichbar, auch wenn hier – durchaus nachvollziehbar – die generationsübergreifenden Entwurzelungstraumata, die Fremdheitsgefühle und die Identitätsstörungen zwischen „deutschsein“, „russischsein“ oder „garnichtssein“ verhandelt werden. Was Leila für schwerwiegende Erfahrungen am ach so gebeutelten „Rand der Stadt“ macht, der mit dem „Rand der Gesellschaft“ gleichgesetzt werden soll, ist im Grunde genommen der Rede nicht wert: Es sind Erfahrungen, die Nachkommen von deutschen Tätern, deutschen Opfern, Bayern in der Lüneburger Heide oder Holsteinern im Schwarzwald auch machen könnten. Dass es weniger mit der gestörten Identität der Eltern und deren Schicksal zusammenhängt, dass Leila „Resopaltische, Sperrholztüren, Linoleumböden“ als Kennzeichen einer randständigen Gruppe wahrnimmt, als vielmehr mit dem Einkommen der Eltern und vor allem dem Jahrzehnt, in dem das alles passiert (den 1970ern), kommt der Autorin offenbar nicht in den Sinn. Ich habe mich beim Lesen oft gefragt: Wo ist das Besondere, das Mitteilenswerte der Geschichte Leilas? Das bisschen Vergangenheitsbewältigung in der Reibung mit den Kriegserlebnissen der Eltern habe ich bei Böll und Wolfgang Leonhard schon oft und besser gelesen. Die Identitätskrise als Entwurzelter hat bei Katja Petrowskaja viel mehr Wucht und Tiefe. Und wie das mit dem Verschicken in die Weiten des russischen Großreichs und der Willkür des Stalinismus ist, erfährt man eindringlicher in Pristawkins „Schlief ein goldenes Wölkchen“ und umfassender in Leonhards „Die Revolution entlässt ihre Kinder“.

Dennoch ist Josefs Kindheitserfahrung in Kasachstan stark erzählt, fesselnd und lehrreich. Hier lebt Josef, der Geschichtensammler, in der Erzählung. Die Ereignisse werden in der dritten Person mit Josef als Handlungscharakter erzählt und sind deshalb sehr lebendig. Die Steppe und die Kälte sowohl des Winters als auch der Nachbarn lassen einen echt frösteln. In diesem Teil des Romans ist auch der Erzählstrang Leilas stärker, ihr Ausbrechen aus ihrem kindlichen Resopaltrauma und ihre Furcht vor dem verrenteten SS-Mann Tartter ein starkes Stück Erwachsnewerden.

Die ersten hundert Seiten des Romans sind es nicht. Woran liegt das? George R.R. Martin hätte auf jeder Seite ausrufen können: „Show, don’t tell!“, denn Janesch quält sich durch die Situationsbeschreibungen von Josef und Leila. Der Unterscheid zum späteren, stärkeren Teil des Buches, erschließt sich aus dem Unterscheid zwischen dem „Bericht über einen Mann, der eine Geschichte erzählen kann“, zu einem „Mann, der eine Geschichte erlebt“. Vor allem aber quälen die bisweilen fast pathetischen Daseinsklagen über das schwere Schicksal der in Deutschland als Rückkehrerkind geborenen Leila.

Unter dem Strich eine Enttäuschung. Überladen durch den Befreiungskomplex, mit dem die Autorin sich offenbar ihre eigene Geschichte vom Leib schreiben wollte.

Über Josefs Innenleben hätte ich gern viel mehr gelesen. Was bleibt, ist der Schrecken, den das einzelne Wort „Sibir“ auslöst. Selbst wenn es sich dabei um Kasachstan und nicht um Sibirien handelt.