Rezension

Mehr Schein als Sein

Wolgatöchter - Ines Thorn

Wolgatöchter
von Ines Thorn

Bewertet mit 1.5 Sternen

Romane über das viel zu wenig beachtete Thema der Auswanderung der Deutschen nach Osten im 18. Jahrhundert hatte ich bisher kaum gesehen, daher nahm ich voller Vorfreude das neuste Werk von Ines Thorn zur Hand, da mich schon der Klappentext fesselte. Um es vorwegzunehmen: ich wurde maßlos enttäuscht. Dies hatte weniger mit dem Setting zu tun, als vielmehr mit der dürftigen Handlung, den unsympathischen Protagonisten sowie der offensichtlichen mangelhaften Recherchearbeit der Autorin.

Dies beginnt bereits mit dem Klappentext: entgegen der Angaben im Klappentext, dass der Roman im Jahre 1765 spielt, steigt die Handlung wohl knapp 30 Jahre später ein. Zwar vermeidet die Autorin konsequent irgendwelche Jahresangaben, allerdings berichten die Reiche Schwestern bei ihrem Spaziergang durch Frankfurt zu Beginn des Romans von den Ereignissen der Französischen Revolution, nennen unter anderem die Hinrichtung Ludwigs XVI. (im Januar 1793) und die Ausrufung der Republik. Selbst wenn man 1793 als Handlungszeitpunkt nimmt, reihen sich zahlreiche historische Kuriositäten aneinander: So sehen die Schwestern französische Offiziere durch Frankfurts Straßen flanieren, was angesichts des Krieges mit Frankreich von 1792-1797 durchaus fragwürdig erscheint.

Diese Art von historischen Ungereimtheiten zieht sich durch den gesamten Roman, so wird im späteren Verlauf über einen „Feldherr mit Namen Napoleon“ diskutiert, welcher sich anschickt „sein Reich auszudehnen“ (S. 316). In Zusammenhang mit der Tatsache, dass Zarin Katharina II. während der Handlung noch lebt, erscheinen diese Aussagen fragwürdig: Napoleons Aufstieg begann 1799 mit einem Staatsstreich, Katharina II. starb jedoch bereits 1796 und hat den Aufstieg Napoleons nicht miterlebt.

Der Stil und die Sprache der Autorin lassen sich leicht und flüssig lesen. Ebenfalls hervorzuheben sind die sehr anschaulich beschriebenen „neuen Situationen“ der Familie Reiche auf ihrer Reise an die Wolga: Die Märkte und die Atmosphäre der Reise ist gut eingefangen und beschrieben. Leider gilt dies nicht für die russische Sprache, die bisweilen eingestreut wird. Exemplarisch lassen sich zwei Beispiele anführen:

Zum einen konnte sich die Autorin (oder das Lektorat) nicht auf eine einheitliche Schreibweise der russischen Wörter einigen. Meiner Meinung nach gibt es dabei nur zwei Möglichkeiten. Entweder man benutzt eine Transliteration, also eine buchstabengetreue Übertragung des Wortes, oder aber man gibt das Wort phonetisch, dem Klang nach, wieder. Im Roman wechselt die Schreibweise von Seite zu Seite, wobei sogar eine gänzlich falsche Schreibweise wiedergegeben wird.

Zum anderen wird falsch bzw. unzureichend übersetzt. So wird der Tochter Lydia von der russischen Nachbarin berichtet, im Russischen gebe es einen entsprechenden Namen „Ljuba“, welcher „Liebe“ bedeutet. Dieses stimmt leider nur ansatzweise, da „Ljuba“ nur der Kosename des Vornamens „Ljubow“ ist, welcher tatsächlich „Liebe“ bedeutet.

Die Protagonisten Familie Reiche lässt erst zum Abschluss des Romans etwas Sympathie zu. Der Vater ist den gesamten Roman über ein selbstzweifelnder, egoistischer Verbrecher. Zwar würde er, nach eigenen Angaben, alles für seine Familie tun, tut jedoch weder vor noch während der Handlung etwas, um das Leben der Familie zu verbessern. Im Gegenteil geht es der Familie zusehends schlechter durch die Aktionen des Vaters. Daneben wird die Tätigkeit des Vaters als Maler mit zahlreichen „Fehlern“ beschrieben, der sein Atelier in Kellern und auf Dachböden errichtet. (Die Tatsache, dass zum Malen ausreichend Licht benötig wird, scheint weder den Vater noch die Autorin zu stören).

Die Mutter eignet sich ebenfalls nicht als Vorbild, einzig die Erziehung ihrer Töchter kann man ihr positiv anrechnen. Im Laufe des Romans hört man öfter den Ausspruch „Das wurde mit nicht an der Wiege gesungen“ von ihr, immer zu einem Zeitpunkt, wo ihre Familie Unterstützung benötigt. Trotzdem erhält die Familie Reiche diese Unterstützung vonseiten der Mutter nicht.

Die Reiche Töchter bleiben ebenfalls fade, Lydia, die in allen Dingen noch das Positive finden kann, findet kaum statt. Annmarie blüht erst auf den letzten 50 Seiten etwas auf und die jüngste Tochter Aurora zieht ständig eine „Schippe“ und kümmert sich nur ihre eigenen Angelegenheiten, ohne der Familie zu helfen.

Die Handlung an sich ist schnell erzählt: Die Familie Reiche lässt sich von einem besseren Leben in Russland locken und muss, nach einer langwierigen und anstrengenden Reise, feststellen, dass man sich auch in Russland Wohlstand verdienen muss. Die im Klappentext beschriebenen Liebesgeschichten der Reiche Töchter bleiben ebenso eintönig wie die Töchter selbst. Nichtsdestotrotz erhält jede Tochter ihr Happy End, wobei auch hierbei historische Hintergründe zurechtgebrochen werden (im Falle von Auroras Ehemann).

Zusammenfassend muss ich leider sagen, dass mich der Roman „Wolgatöchter“ von Ines Thorn sehr enttäuscht hat. Über weite Teile des Romans hatte ich das Gefühl, dass der Handlungsort beliebig ist, die Kulisse bleibt über den Großteil des Romans austauschbar, hätte genauso gut im Wilden Westen Amerikas, in Lateinamerika oder in Afrika spielen können. Die Protagonisten können keine Sympathie erzeugen, bleiben, bis auf die beiden älteren Schwestern, bis zum Schluss unsympathisch und ihre Beweggründe abwegig. (So erhält z.B. der Vater bei seiner Ankunft in Saratow vom örtlichen Kloster eine Palette Farben geschenkt, mit denen er gleich anfängt, Ikonen zu fälschen.)

Die Inhaltsangabe verspricht „Ein Epos über das bewegte Schicksal der Wolgadeutschen“, dieses Versprechen kann die Autorin mit diesem Roman leider nicht einlösen. Die zahlreichen historischen und inhaltlichen Fehler, welche auf eine mangelhafte oder unzureichende Recherche schließen lässt, verbieten m.M.n. die Bezeichnung „historischer Roman“ und zerstören jeglichen Lesefluss.

Wer einen seichten Liebesroman mit ein wenig Russlandbezug sucht, ist mit „Wolgatöchter“ trotz allem gut bedient, wer jedoch einen historisch fundierten Roman über die Geschichte der Wolgadeutschen sucht, ist mit z.B. „Schön ist die Jugend bei frohen Zeiten“ (ISBN 978-3-86685-195-5) besser beraten.