Rezension

"Nachts weinen die Soldaten..." - ein authentisches Meisterwerk!

Der letzte Sommer - Helen Simonson

Der letzte Sommer
von Helen Simonson

Bewertet mit 5 Sternen

Der Sommer neigt sich langsam, aber sicher dem Ende zu. Traurig muss deswegen aber keiner sein, denn auch im nächsten Jahr werden alle wieder den Sommer genießen… oder nicht? Vor dieser Frage stehen auch die Hauptcharaktere aus Helen Simonson's historischen Roman „Der letzte Sommer“, denn deren bisher friedliche Welt steuert geradewegs auf ihren ersten Weltkrieg zu.

In jenem ereignisreichen Sommer des Jahres 1914 schmieden mehrere junge, ambitionierte Erwachsene Pläne für ihre Zukunft. Die selbständige und unabhängige Beatrice hat gerade eine Anstellung als Lateinlehrerin in der Kleinstadt Rye erhalten und ist fest davon überzeugt, sich auch ohne Heirat finanziell etablieren zu können. Hugh, ein Medizinstudent und Gentleman der alten Schule, möchte die Tochter seines Professors heiraten und irgendwann dessen erfolgreiche Praxis in London übernehmen. Und Freigeist Daniel träumt von der Gründung einer eigenen Zeitung, um sich mit seinen Freunden voll und ganz der Dichtkunst zu widmen.

Jeder glaubt, dass seine Ziele zum Greifen nah seien, als plötzlich die Deutschen in Belgien einmarschieren und England solidarisch in den Krieg zieht. Die traditionelle und konservative Bevölkerung Ryes wird mit Nahrungsmittelknappheit und einem Zustrom von Flüchtlingen konfrontiert. Dennoch ist es für unser heutiges Verständnis unvorstellbar, dass manche Adlige in dieser Not eine Gelegenheit zur Selbstdarstellung suchen, statt den Menschen ernst gemeinte Nächstenliebe entgegenzubringen. In diesem Punkt gerät das Buch zur messerscharfen Gesellschaftsstudie, das dank fundierter Recherche und historischer Bezüge den Standesdünkel des frühen 20. Jahrhunderts durchleuchtet. Auch die Protagonisten schauen hinter die allmählich bröckelnden Fassaden und entwickeln sich stetig weiter. Die Dialoge zwischen den Charakteren leben durch eine bildhafte, an die damals herrschende Redensart und Höflichkeitsfloskeln angepasste Sprache. Diese mag nicht jedem gefallen und es braucht eine Zeit, bis man lernt, vor allem auf das zwischen den Zeilen Gesagte zu achten. Hat man sich jedoch erst einmal daran gewöhnt, entwickelt das Buch einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Bis auf einige wenige Längen zur Mitte des Buches hin bleibt es spannend, was vor allem daran liegt, dass die Charaktere dem Leser ans Herz wachsen und man mit ihnen mitfiebert.

Atmosphärisch wird es vor allem in kontrastreichen Momenten, wenn einerseits die Landschaft mit ihrer natürlichen Schönheit betört, andererseits aber der Krieg nur ein paar Kilometer entfernt mit ungeschönter Brutalität über die Städte fegt. Helen Simonson versucht nicht, die Grausamkeit des Krieges zu verstecken oder mit Pathos anzureichern. „Der letzte Sommer“ ist vielmehr ein Mahnmal vergangener Zeit, das dem Leser gnadenlos vor Augen führt, wozu Menschen fähig sind, wenn sie zunächst für ihr Land, dann für ihre Stadt und schließlich nur noch zum Schutz ihrer Liebsten in den Krieg ziehen. Endlich erhalten auch Minderheiten eine Stimme, die bisher nie gehört wurden. Auch Kinder, Flüchtlinge und Roma sind untrennbar mit dem Kriegsgeschehen verbunden, ihr Schicksal wird aus einer bisher viel zu sehr vernachlässigten Perspektive erzählt – ihrer eigenen. Wer auf den letzten Seiten des Buches noch keine Tränen in den Augen hat, sollte sich immer wieder vor Augen führen, dass es Schicksale wie die der Charaktere wirklich gegeben hat. Stimmen, die wir heute nicht mehr hören können, aber an die wir dank Helen Simonson erinnert werden. Ein Buch, das lange nachwirkt, auch über das Ende des Sommers 2016 hinaus.

Fazit: „Der letzte Sommer“ ist einerseits intelligente Gesellschaftsstudie, andererseits schockierendes Lehrwerk gegen den Krieg. Auf sprachlich hohem Niveau erzählt Helen Simonson die Geschichte einer Generation, die selbst nicht mehr mahnen und warnen kann, welche Verluste ein Krieg mit sich bringt. Dennoch bleibt sie fest am Puls der Zeit und verarbeitet Themen, die uns aus dem aktuellen Kriegsgeschehen in Syrien bekannt vorkommen. Somit steht das Buch auch für alles, was vom „letzten Sommer“ 1914 bis heute übrig ist, für das Überwinden von Vorurteilen und gesellschaftlichen Zwängen, für mehr Nächstenliebe und Toleranz. Ein nachdenklich stimmendes Buch mit viel Tiefgang, eine klare Empfehlung für alle, die aus der Vergangenheit lernen wollen!

Ein herzliches Dankeschön an den DuMont Buchverlag und an lovelybooks für eine wirklich interessante Leserunde!

Übrigens, das Zitat in der Überschrift stammt aus dem gleichnamigen Lied der Gruppe Saltatio Mortis, an das ich beim Lesen immerzu erinnert wurde. Es ist meiner Meinung nach ebenfalls sehr zu empfehlen!