Rezension

Poesie des Todes

The Narrow Road to the Deep North - Richard Flanagan

The Narrow Road to the Deep North
von Richard Flanagan

Bewertet mit 5 Sternen

Lest ihr auch gerne Buchpreis-Gewinner? Bei mir gehören sie inzwischen zu meiner bevorzugten Lektüre, sowohl was den Deutschen Buchpreis angeht wie auch den Man Booker Prize. Beim Literaturnobelpreis tue ich mich allerdings meistens schwerer und bin deshalb zurückhaltender mit dessen Lektüre. (Vielleicht ändert sich das noch). Bei den anderen Winnern, Shortlistlern und Longlistlern habe ich jedoch überweigend gute bis sehr gute Erfahrungen gemacht - ziemlich abgefahrene sogar. Ohne das unvoreingenommene Zurhandnehmen der gepreisten Autoren, würde ich thematisch nämlich um manchen "Schatz" einen Bogen schlagen. So auch beim Sieger des Man Booker Prize 2014. Nachfolgend meine Leseerfahrungen:

Stilistisch liegt mir der Gewinner des Man Booker Prize 2014 zuerst einmal nicht; Flanagans Satzkonstruktionen sind ungewöhnlich, es braucht eine Einlesephase. Aber er schreibt in einem Guß, da gibt es weder Sprünge noch Brüche. Er ist ein Meister in Form und Ausdruck. Meister sind anstrengend, anspruchsvoll, jede Mühe lohnend. Die Thematik von „The Narrow Road to the Deep North” jedoch ist schrecklich, grauenhaft, entsetzlich.

Protagonist Dorrigo Evans, ein junger australischer Chirurg, gerät in japanische Kriegsgefangenschaft und wird in einem POW-Camp (Prisonars of War) zum Bau der Nachschublinie Bangkok-Burma, 415 km quer durch den Dschungel, herangezogen, der sogenannten „The Burma Death Railway“. Gleichzeitig hat er als Arzt und Colonel seiner Truppe betreuende Funktionen, (Operationen ohne Medikamente und Geräte); er ist Entscheidungsträger für Entscheidungen, die treffen zu müssen, sich niemand wünscht. Die Kriegsgefangenschaft bei den Japanern ist Sklaverei, Folter, Willkür, Demütigung. Das ist es eigentlich: Täter und Opfer. Vorher, dabei und nachher. Unchronologisch. Aber logisch. Immer nachvollziehbar. Die reinen Zahlen zur Kriegsgefangenschaft in Japan kann man meiner Rezension zu „Unbroken“ von Laura Hillenbrand entnehmen (folgt in Kürze).

Obwohl der Roman thematisch, und nur thematisch, über weite Strecken hinweg, einfach nur schrecklich ist, löst er doch vieles bei mir aus. Fragen schießen mir durch den Kopf. Hat ein Volk die Staatsstruktur, die es verdient? Ist ein Volk mitverantwortlich für das, was in „seinem Namen“ passiert, selbst dann, wenn es sich nicht um eine Demokratie handelt? Gibt es (insoweit) Kollektivschuld? Und ist somit Kollateralschaden mittelbar nicht doch „verdient“? Was ist Schicksal? Auch die Protagonisten sinnieren über die Bedeutung von Leben, Leiden, Schmerz, Tod, Ehre, Schuld, Sühne, Unschuld, Gerechtigkeit, Rechtfertigung, Schicksal und Liebe. Ist es Gnade, zu vergessen?

Perspektivwechsel treiben mir die Tränen in die Augen. Inwieweit ist der Täter Opfer?  Todesstrafe? Auch die Täter sind Menschen. Gehängt werden ist auch nicht spaßig.

Der Verdienst des Autors ist es, dass er die Seiten wechselt und eine Gesellschaftsstruktur enthüllt, in der Autorität verherrlicht wird. Der Tenno ist nicht nur Kaiser, er ist Gott. Und was ist ein Mensch, dass er Gott widerspräche? So erklärt sich, dass angeklagte und verurteilte Kriegsverbrecher Japans sich auch nach Kriegsende selten einer Schuld bewusst sind, da sie ja „nur“ den Willen des hochwohlgeborenen Kaisers ausführten. Und auch die USA messen mit zweierlei, pragmatischem Maß.

“In private they asked a simple question. If they and all their actions were simply expressions of the Emperor’s will, why then was the Emperor still free? Why did the Americans support the Emperor but hang them, who had only ever been the Emperor’s tool? But in their hearts they all knew that the Emperor would never hang and that they would. Just as surely as they had beaten and tortured and killed for the Emperor, the men … were now to hang for the Emperor.”

Andere waren nur verachtete Hilfsvölker; erklärbar wird der Hass, der noch heute zwischen Korea und Japan und zwischen Japan und China schwelt, und wenn nicht Hass, so doch Ressentiments.

Die Protagonisten: Es ist eine Männerwelt. Richard Flanagan hat eine Vielzahl an Schicksalen aufgeboten. Hüben wie drüben. Die Details sind einfach super.

Richard Flanagan hat dieses Buch als mittelbar Betroffener geschrieben, denn sein Vater war Überlebender des Burma-Railway-Camps. „His father, who died the day Flanagan finished „The Narrow Road to the Deep North“, was a survivor of the Burma Death Railway.” Um so mehr berührt es, dass der Autor sich in der Lage sah, sich in die Gegenseite einzufühlen.

Sowohl inhaltlich wie sprachlich hat mich dieser Roman an meine Grenzen geführt, Flanagan hat einen ganz speziellen Stil, liest man sich ein, findet man Rhythmus und Poesie, Schönheit.

„The Narrow Road to the Deep North“ ist, soviel ich weiss, noch nicht übersetzt, aber der Gewinner wie auch die Shortlistler des Man Booker Prize, kommen in der Regel im Jahr darauf in den deutschen Handel. So wird jeder dieses Buch bald lesen können.

Fazit: Ich bin beeindruckt, gefesselt, geflasht, schockiert. „The Narrow Road to the Deep North“ ist ein Kriegsroman auf höchstem Niveau, beruhend auf Fakten. Aber nichts für Zartbesaitete. Doch lässt man sich ein, findet man alles, was Literatur vermag.

Kategorie: Gehobene Literatur // Verlag: Chatto & Windus, London, 2014

Kommentare

marsupij kommentierte am 26. Februar 2015 um 10:34

Eine tolle Rezension! Ich bin aber nicht sicher, ob ich das Buch wegen der Thematik wirklich lesen möchte. Mal abwarten.

wandagreen kommentierte am 26. Februar 2015 um 11:05

Das kann ich absolut nachvollziehen! Die englische Sprache bot mir allerdings ein bisschen Schutz, erlaubte eine gewisse Distanz. Dennoch fragte mein anbetungswürdiger Gatte in der Zeit der Lektüre, warum ich die ganze Zeit so schlecht drauf wäre ....

Noch mehr mitgenommen hat mich nur "A Constellation of Vital Phenomena" von Anthony Marra, mein (englisches) Highlight 2014 - wahrscheinlich weil es zeitlich näher dran ist und örtlich um die Ecke.