Rezension

Problemfall Indizienprozeß

Ein gutes Mädchen - Jennifer DuBois

Ein gutes Mädchen
von Jennifer DuBois

Bewertet mit 4.5 Sternen

Nachdem die Familie Dubois ihre erstgeborene Tochter Janie schon im Kindesalter an eine tödlich verlaufende Krankheit verloren hat, glaubt sie, umgehen zu können, mit dem, was sich gemeinhin Schicksal nennt, doch im Leid kann man sich nicht üben, selbst wenn man davon schon eine reichliche Portion im Leben verabreicht bekommen hat. Diese schmerzhafte Erfahrung machen die Hayes, als ihre älteste Tochter Lily ins argentinische Zuchthaus wandert mit einer Mordanklage am Hals.

Die Familie reagiert also nicht abgeklärt, sondern tief verstört und reist nach Buenos Aires, um Lily beizustehen. Andrew, der Vater, empfindet die Zeit in Argentinien und zunehmend sein ganzes Leben, seine Ehe, seinen Beruf und sich selbst als surrealistisch, Maureen, die Mutter, bleibt im vordergründigen Unmittelbaren und leidet am meisten an den äusseren Umständen, Anna, die Schwester, versucht, pragmatisch zu sein und hat als einzige eine eingermassen objektive Sicht auf die Schwester. Sie stellt sich der Frage: Kann Lily es eventuell getan haben? Aber da diese Frage ins unannehmbare Leere fällt, fällt auch Anna, nämlich in die Normalität ihres jugendlichen Lebens zurück und trotz allem Bemühen kann sie ihre Langeweile über die sinnentleerte Warterei im fremden Buenos Aires nicht verbergen. Alle zusammen sind sie hilflos in einer Warteschleife gefangen, was wird mit Lily, wer hat das zu entscheiden und wovon hängt diese Entscheidung ab? Von dem ungünstigen Bild, das Lily in der Öffentlichkeit durch die Presse vermittelt, macht? Vom Staatsanwalt, der aufgrund seiner Menschenkenntnis sich recht schnell sicher  zu sein glaubt? Von ihr selbst, von dem, was sie ohne einen Anwalt gewollt zu haben, preisgegeben hat? Von Zeugen? Von Indizien? Was spricht für Lily und was gegen sie?

Die Autorin Jennifer Dubois stellt im ersten Teil ihres Buchs das innere  Erleben sämtlicher Protagonisten in den Mittelpunkt. Mit jeder neuen Perspektive erweitert sich auch der Blick des Lesers auf die Angeklagte. Was war und was ist sie für ein Mensch? Unbedarfte Austauschstudentin wie der Vater meint? Existentialistisch reizvoll, wie der überspannte Sebastien denkt, mit dem sie ein seltsam unverbindliches Verhältnis hatte? Gedankenlos impulsiv, wie Katy, ebenfalls Austauschstudentin, Zimmergenossin und Opfer ihr vorhält? Unverschämt und übergriffig, eine Person, mit der man ständig Scherereien hat, wie die Gastmutter sie empfindet? Vorlaut und respektlos, wie sie in der Bar eingeschätzt wird, in der sie aus einer Laune heraus arbeitet? Arrogant, kapriziös, unsensibel, wie Eduardo, der Staatswalt glaubt, der aufgrund seiner gefühlskalten Ehefrau, deren Charakteristika und Verhalten eins zu eins auf Lily projiiziert? Fest steht, dass Lily die Realität oft falsch einschätzt.

Im zweiten Teil des Romans geht es engmaschig auf den Prozeß zu. Lilys Alibi für die Mordnacht ist geplatzt. Denn sowohl ihre Schwester Anna wie auch Sebastien, der argentinische Freund, haben für sie gelogen und sind damit aufgeflogen. Warum haben sie gelogen? Doch wohl, weil sie eine Beteiligung Lilys an der Ermordung Katys sehr wohl für denkbar halten. Dennoch sind ihre Lügen keine stichhaltigen Beweise für Lilys Schuld.

Bei der Vernehmung des Barmanns, Ignatio Toledo, durch Eduardo im sechzehnten Kapitel von insgesamt neunzehn, bilde ich mir endlich ein eigenes Urteil vom Tathergang und vom Geschehen in der unheilvollen Nacht. Auch ein Motiv meine ich auszumachen.

Jennifer Dubois hat mit „Ein gutes Mädchen" ein Justizdrama geschrieben, das vor allem durch Wirklichkeitstreue besticht. Es ist eng an den Fall Amanda Knox angelehnt und zeigt alle Aspekte auf, die die Menschen, die es durchleben, realiter durchlebt haben könnten. Dabei spielt es keine Rolle, ob es den durchgeknallten Sebastien in der Weise, wie die Autorin ihn dargestellt hat, auch gegeben hat, denn Skurrilität gehört durchaus zum Leben ebenso wie die Verkettung unglückseliger Umstände. Besonders überzeugt hat mich, wie die Autorin die Vielschichtigkeit aufzeigt, die hinter einem Indizienprozeß steht, bei dem schon Kleinigkeiten das Gesamtbild völlig zu verändern vermögen und wer kann schon sagen, ob die Richter letztendlich wirklich die Wahrheit gefunden haben.

Die Autorin arbeitet nicht mit den vom Leser so geschätzten emotionalen Momenten der Einfühlung in ihre Protagonisten, sondern mit der Verunsicherung über scheinbar absolut gesetzte Fakten. Das macht den Roman einerseits „kalt“, andererseits gerade faszinierend.

Etwas kritischer bewerte ich die Sprache des Romans; sie ist manchmal zu gewollt intellektuell, insoweit gelegentlich manieriert; auch die von Duboi verwandten Metaphern konnte ich in ihrer Bedeutung nicht immer erfassen, dies ergibt den Punktabzug, andererseits wiederum kommt Dubois mit ihren sehr individuell entwickelten Bildern auch immer wieder ganz auf den Punkt.

Fazit: Ein sorgfältig aufgefächerter und aufbereiteter Justizroman mit gründlicher psychologischer Ausleuchtung, der durch die Nähe zum Fall Amanda Knox Brisanz erhält.

Kategorie: gehobene Unterhaltung, Aufbau Verlag Berlin 2014