Rezension

"Was nicht sein kann, das nicht sein darf!"

Ein Leben lang -

Ein Leben lang
von Christoph Poschenrieder

Bewertet mit 5 Sternen

München im Jahr 2006. Die Millionärin Charlotte Böringer wird tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Ihr Neffe wird des Mordes bezichtigt. Sein Motiv soll die Angst vor einer Enterbung als Konsequenz seines abgebrochenen Jurastudiums, das widerum seine Tante als Bedingung für die Erbschaft festgelegt hatte, gewesen sein. Es folgt ein Indizienprozess, in dem Einiges auf den Neffen als Täter hindeutet, nichts jedoch die Täterschaft zweifelsfrei belegt. Dennoch wird der Neffe am Ende für schuldig befunden und wird zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil gilt als umstritten. 

"Ein Leben lang" basiert auf diesem sog. Parkhausmord, räumt Poschenrieder im Rahmen eines Interviews ein. Der reale Fall habe als Vorlage für den Roman gedient. Poschenrieder nahm sich jedoch die Freiheit heraus, auf dieser Basis eine fiktionale Geschichte zu erzählen. Der Autor verweist im Interview auf vorgenommene Modifikationen des fiktiven Falls. Auch betont er, dass sein Interesse nicht in der Klärung der Schuldfrage liege. Ihm gehe es vielmehr um die ausgelösten Dynamiken im Freundschaftskreis, die infolge der (Vor-)Verurteilung des Freundes einsetzten. Diese Intention des Autors soll im Folgenden die Grundlage sein für die Beurteilung des Werkes.

Grundzüge des Inhaltes lassen sich zwar vom realen Fall ableiten, doch hier nochmal eine Kurzfassung. Die Rahmenhandlung ist die Auseinansdersetzung einer Journalisitin mit dem Fall. Sie hat verschiedene Dokumente zum Fall gesammelt (Notizen, Zeitungsausschnitte, Protokolle etc.) und außerdem rückwirkend die Freunde von X, der namenlos bleibt, befragt. In Poschenrieders Fassung geht es um die Auseinandersetzung der Freunde mit der Frage nach der Schuld des Freundes und deren rückwirkendem Erleben des Geschehens - angefangen vom Tatverdacht, über den Indizienprozess bis hin zur lebenslänglichen Verurteilung des Täters. Es geht um die Dynamik innerhalb des Freundeskreises, nicht aber um die Klärung der Schuldfrage oder aber eine Kritik am durchgeführten Indizienprozess. Das ist wichtig für die Diskussion und Einschätzung des Romans. Unterschiedliche Materialien und Stimmen werden wie kleine Mosiksteinchen nach und nach zusammengetragen und ergeben schlussendlich ein Mosaikbild des fiktiven Falls. Neben X als Neffen des ermordeten Erbonkels, der Journalistin sowie dem Ankläger stehen insbesondere der Freundeskreis von X im Vordergrund. So heterogen er zusammengesetzt ist (Naturwissenschaftlerin, Lehrerin, Musiker, Jurist, Pressesprecher), so homogen ist - zumindest über weite Strecken- deren Einschätzung zum Fall: Der Freund- ein Mörder? Nein, das kann (und darf) nicht sein! 

Die Dynamik innerhalb des Freundes ist wirklich interessant: Waren die Freunde zwischenzeitlich fremde Wege gegangen, so führt das Geschehen sie nun wieder zusammen: Sie diskutieren die Frage der Täterschaft des Freundes, entwickeln Strategien, die vielleicht am ehesten sie selbst von der Unschuld des Freundes überzeugen sollen. Doch während dies sie zunächst fest zusammenschweißt, bröckelt die Fassade zunehmend, und der ein oder Andere beginnt doch Zweifel zu hegen. 

Tatsächlich ist diese Beobachtung der Dynamik und Veränderung innerhalb des Freundeskreis das Spannende an der erzählten Geschichte. Persönlich finde ich, dass es Poschenrieder äußerst gut gelungen ist, diese Dynamik aufzuzeigen. Das Buch wird so zu einem Psychogramm des Freundeskreises, in dem es nicht mehr um Wahrheiten geht, nicht um die Klärung der Frage, ob der Freund gemordet hat oder nicht. Vielmehr geht es darum, was es auslöst, wenn Freunde gezwungen werden, sich damit auseinanderzusetzen, dass einer von ihnen - jemand, den man gut zu kennen glaubte, plötzlich ein potentieller Mörder ist. Wurde man jahrelang getäuscht, indem der Freund vorgab jemand anders zu sein als der, für den er sich ausgab? Oder hat man sich selbst in dem Freund getäuscht? Wurde man vom Freund getäuscht und belogen? Und falls ja, lügt man sich selbst jetzt in die Tasche? Wenn ja, warum das eigentlich? Im Vordergrund steht die Frage, ob ein Freund ein Mörder sein kann. Vielleicht auch die Frage, ob ein Freund, der alle bereits einmal hereingelegt und an der Nase herumgeführt hat, es verdient, ein Freund zu sein. Oder auch, warum man geneigt ist, dem Freund nichtsdestotrotz beizustehen. 

Zugegeben, mich hat die Schuldfrage nicht kalt gelassen. Gerade infolge einer Wendung gegen Ende des Romans hat sich meine Einschätzung diesbzgl. als fragil erwiesen. Mehr Klarheit bekommt man als Leser vielleicht, wenn man Wildes "Das Leben des Dorian Gray" kennt. Leider habe ich dieses Werk noch nicht gelesen und verstehe daher den Wilde-Bezug und dessen vermeintliche Bedeutung bezüglich der Schuldfrage nicht. Wer "Ein Leben lang" noch als Lektüre vor sich hat, der könnte gegebenfalls davon profitieren, das Wilde-Buch vorher zu lesen. 

Letztlich kann ich gut mit der für mich offen bleibenden Frage der Täterschaft leben - zumal diese zu klären ja auch nicht die Intention des Autoren ist. Insgesamt hat mich die Geschichte sehr gefesselt. Sie lies sich auch durch die häufigen Perspektivwechsel und kurzen Materialien sehr gut lesen und gewann dadurch an Fahrt. Ein wenig fühlte ich mich an die Picoult Romane erinnert, wo auch oft aus mehreren Perspektiven auf eine Frage geschaut wird. Im Unterschied zu Poschenrieder, bietet Picoult in der Regel trotz aller Vielstimmigkeit aber eine Auflösung an. 

Sehr gerne und uneingeschränkt empfehle ich die Lektüre dieses Romans weiter.