Rezension

*+* Welch wunderbarer Quell an Gedankenanstößen *+*

Bird und ich und der Sommer, in dem ich fliegen lernte - Crystal Chan

Bird und ich und der Sommer, in dem ich fliegen lernte
von Crystal Chan

Bewertet mit 5 Sternen

*+* Rezensionen, Interviews, Verlosungen, Aktionen und mehr gibt es auf meinem Bücherblog  und auf der Facebook-Seite "Irve liest" *+*

Inhalt:
Dass es Dinge gibt, über die man in einer Familie nicht redet, ist ganz natürlich, findet Jewel. Oder vielleicht kommt einem das auch nur so vor, wenn man am selben Tag geboren wurde, an dem der ältere Bruder gestorben ist. Wenn man dann auch noch in einer Multikulti-Familie auf dem Land lebt, kann das Leben manchmal eine ganz schöne Herausforderung sein. An einem Tag im Sommer taucht plötzlich John auf und zum ersten Mal in ihrem Leben hat Jewel einen Freund. Als dann aber Jewels Vertrauen missbraucht wird, lernt sie, dass man über manche Dinge nicht schweigen darf.
(Quelle: Magellan - Der Verlag mit dem Wal)

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Meine Meinung:
Guten Tag, mein Name ist Jewel.
Vor Kurzem bin ich 12 Jahre alt geworden. Toll, finden Sie?
Und dass ich wahrscheinlich eine schöne Feier hatte, weil 12 ja schon etwas besonderes ist?
Und dass ich im Kreise meiner Familie einen fröhlichen Tag erlebt habe?
Nun, da muss ich Sie leider enttäuschen.
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Meine Geburtstage sind nie fröhlich. Am Tag meiner Geburt ist mein Bruder John gestorben. Er war damals 5 Jahre alt und ich hätte ihn sehr gerne kennen gelernt, aber das geht natürlich nicht. Umso schlimmer ist es für mich, dass niemand mir erzählt, was damals passiert ist….
Gut, einen Teil der Geschichte kenne ich: Opa hatte ihm den Spitznamen BIRD gegeben.
Ob John wohl deshalb dachte, er könne fliegen und von der Klippe gesprungen ist?
Oder waren die Duppies (mein Vater ist abergläubisch) daran schuld und hatten meinen Bruder in die Falle gelockt?
Oder trägt meine Familie im Ganzen die Schuld an seinem Tod, weil sich einer auf den anderen verlassen hatte und offenbar niemand auf meinen Bruder aufpasste, sodass er verschwinden konnte?
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Wie auch immer; Irgendwie fehlt er mir und ich würde gerne mehr über ihn wissen.
Wie er war, und auch wie meine Familie war bevor das Unglück geschah. Auf alten Fotos sehen alle immer so fröhlich und glücklich aus und jetzt, wo es mich gibt, ist nichts mehr davon übrig.
Ich fühle mich oft überflüssig, niemand scheint mich richtig wahrzunehmen, niemand interessiert sich für mich, niemand fragt, wie es mir geht.
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Darum gehe ich oft zu der Klippe, von der mein Bruder einst sprang. Hier spüre ich ihn, hier fühle ich mich ihm und auch mir näher als sonst irgendwo auf der Welt. Manchmal ist es nicht auszuhalten in meiner Familie. Dann gehe ich zur Klippe und vergrabe Kieselsteine – für meine Sorgen und Wünsche.
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Wie gut, dass ich neulich einen Freund gefunden habe. Er ist der erste Mensch, mit dem ich reden kann, dem ich meine tiefsten Geheimnisse und Wünsche sage, zum Beispiel das von BIRD und dass ich mal Geologin werden möchte. Er mag das Weltall und möchte später zu den Sternen fliegen……..
Ich zeigte ihm meinen Lieblingsplatz, die Klippe, er mir seinen Lieblingsort, einen morschen Baum, den er Ereignishorizont genannt hatte. Das ist ein Begriff aus der Astronomie. Ich mag es, wenn er mir von seinem Steckenpferd erzählt, weil dann überhaupt jemand mit mir redet und mich ernst nimmt…..
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[BIRD1] .
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Liebe Lesefreunde,
so fühlte ich mich zu Beginn des Buches. Diese Geschichte hat mich derart tief ins Herz getroffen, dass ich irgendwie zu Jewel wurde. Um es astronomisch auszudrücken, wir bildeten für die Zeit meines Lesens einen Doppelstern. Ich litt fast körperliche Schmerzen, wenn ich gemeinsam mit Jewel die von ihr wahrgenommene subtile Ablehnung durch ihre Familie spürte. Aussagen wie „Ich wollte nicht Jewel, ich wollte meinen Sohn!“ ließen mich zusammenzucken und ich fühlte mich einfach nur schlecht. Wie kann man ein lebendes Kind so dem toten hintanstellen….
War es Vergessen, Verdrängen oder Gleichgültigkeit?
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Jewel hat mit ihrem aus Jamaika stammenden Vater und der mexikanischen Mutter multikulturelle Wurzeln. Für ihren Vater ist es normal, abergläubisch zu sein, weshalb es oft Streit mit der Mutter gibt. Der Vater glaubt an Duppies und versucht, die Familie mit allen Mitteln davor zu bewahren. Jedoch zieht damit nicht nur eine Schutzschicht vor den bösen Geistern sondern auch um sich selbst, was bei dieser Familie leider nichts besonderes ist. Sei es aus schlechtem Gewissen, Angst, Scham oder was auch immer, alle scheinen aneinander vorbeizuleben und Jewel scheint niemanden von ihnen wirklich zu kennen.
„Warum hatte Bird eine Opi und ich habe gar nichts?“
An ihr hat niemand offensichtliches Interesse, sie fühlt sich einsam und verlassen in ihrer Familie und stellenweise sehr unerwünscht.
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So verwunderten mich ihre Gedanken nicht…….An Birds Klippe fühlte sich lebendig und wahrhaftig, sollte es die Lösung sein, seinen Weg zu gehen, um wenigstens mit ihm vereint zu sein?
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[BIRD4]
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Des Freundes Lieblingsort heißt Ereignishorizont, er hatte Jewel dazu folgende Erklärung gegeben:
Der Sog eines schwarzen Loches ist stark, aber wenn man nicht zu nah herangeht, wird man nicht hineingerissen. Den Punkt, von dem an es kein Zurück mehr gibt, nennen die Wissenschaftler Ereignishorizont. Sobald man den überschreitet… Game over…dann wird man hineingesaugt.
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An diese Definition musste ich irgendwann automatisch denken. Jewel fühlte sich immer unglücklicher, stellte ihr Dasein immer mehr in Frage, ebenso den Sinn ihres Lebens. Sie steuerte mit Riesenschritten auf ihren ganz persönlichen Ereignishorizont zu. Ihre Verzweiflung war fast greifbar und ich litt mit Jewel…noch mehr als ohnehin schon!
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„Wie konnte es sein, dass meine Eltern, die ich schon mein Leben lang kannte, nicht verstanden, warum ich hierherkam, aber John, den ich erst vor ein paar Tagen kennengelernt hatte, schon?“
Zum Glück gab es im Buch sehr viel Raum zur Entfaltung. Für jeden. Nicht nur für Jewel. Auch für ihre Eltern. ihren Großvater. Auch ihren Freund. Zum Glück, denn diese musste erkennen, wie man aus einem unbedachten Spaß jemanden sehr unglücklich machen kann.
„Die kleinsten Dinge können die größten Auswirkungen haben.“
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[BIRD6]
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Mehr mag ich zum Inhalt gar nicht verraten. Ich hoffe jedoch, viele meiner Leser neugierig gemacht zu haben.
„BIRD und ich und der Sommer, in dem ich fliegen lernte“ halte ich für ein wunderbares Buch, nicht nur für Jugendliche. Mein zehnjähriger Sohn hat es gelesen und war völlig begeistert. Er hat jedoch nur die oberste Ebene erfasst, die Handlung an sich. Die tieferen Schichten blieben ihm noch verborgen. Je älter die Leser sind, um so bewusster werden sie die verschiedenen Schichten des Buches erfassen können. BIRD ist viel tiefer als es auf den ersten Blick erscheinen mag und ich empfinde es als eines der wenigen Bücher, die einen Mehrwert entfalten können, wenn sie mehrmals gelesen werden.
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Schon mit den ersten Seiten fühlte ich mich vom Schreibstil an die Hand genommen und spürte eine wohltuende Stimmung, obschon es stellenweise sehr traurig zuging. War da etwa „Magie“ im Spiel?
Ebenso wie das Thema Aberglaube gibt dieses Buch sehr viele Impulse für Gedankenexperimente, sehr viele Angriffspunkte für Diskussionen.
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Jewels Opa sagt an einer Stelle „Gute Saat gibt gute Bäume“. Auf das Buch übertragen kann man daraus machen „Gute Gedankensaat gibt gute Diskussionsmöglichkeiten“.
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[BIRD2]
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„Ich konnte nichts dafür, dass ich zu früh gekommen war, aber ich hatte getan, was ich konnte. Ich hatte mir soviel Mühe gegeben, sie glücklich zu machen. Und sie hätten froh sein sollen, mich zu haben, aber das waren sie nie gewesen. SIE hatten nicht getan, was sie konnten. Sie hatten es nicht mal versucht.“
Die Charaktere werden sehr intensiv dargestellt, obgleich die Autorin dafür nicht viele Worte braucht. Sie beschreibt treffend die Familienmitglieder, die Stimmungen. Glücklicherweise alles sehr lebendig und mitreißend mit viel Raum für Entwicklungen.
Am meisten beeindruckt hat mich – neben Jewel – der Opa, auf den ich aber nicht näher eingehen möchte. Seine Rolle empfinde ich als so komplex und letzten Endes so gewaltig, dass ich mit jedem Wort, das ich über ihn verliere, zu viel sagen würde.
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Zusätzlich zu den Hauptthemen Liebe, Tod und Verlust, Freundschaft und Vergebung werden immer wieder interessante Ausflüge in die Themenbereiche Geologie und Astronomie eingestreut, die die Geschichte bereichern, denn die thematisierten Begriffe und Zustände passen perfekt zu einigen Stellen im Buch.
Ebenfalls wird die „Gedankensaat“ zu weiteren Themen gelegt.
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[BIRD3]
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Der Schluss des Buches ist spannend und sehr aufwühlend….aber zum Glück folgt auf jeden Sturm auch eine Phase der Ruhe. So konnte ich dieses Buch letzten Endes sehr zufrieden zuklappen. Die „Gute Saat“ treibt hingegen weiter ihre Triebe, die mich wohl noch lange beschäftigen werden und somit zu „Guten Bäumen“ heranwachsen können.
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Mein Fazit:
Sehr tiefes Jugendbuch, das in seinem Anspruch auch dem erwachsenen Leser gerecht wird. Ich vergebe, ebenso wie mein Sohn, die volle Wertung.
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Infos zum Buch:
„BIRD und ich und der Sommer, in dem ich fliegen lernte“ von Crystal Chan ist am 21.Juli 2014 unter der ISBN-Nr. 978-3-7348-4703-5 im Magellan-Der Verlag mit dem Wal erschienen. Es umfasst 304 Seiten und ist für Leser ab 11 Jahren empfohlen.

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