Rezension

Wenig Plot im Außen, umso mehr Entwicklung im Inneren

Vom Mond aus betrachtet, spielt das alles keine Rolle -

Vom Mond aus betrachtet, spielt das alles keine Rolle
von Anne Freytag

Bewertet mit 4 Sternen

Anne Freytag gehört seit „Mein bester letzter Sommer“ zu meinen absoluten LieblingsautorInnen – ihre Bücher kaufe ich immer sofort nachdem sie erscheinen, meist sogar ohne den Klappentext wirklich zu lesen, denn ich weiß schon zuvor, dass mich ihr wunderschöner Schreibstil und ihre so echten Charaktere mich wieder in ihren Bann ziehen werden. Doch so sind die Erwartungen natürlich auch immer sehr hoch: Konnte „Vom Mond aus betrachtet, spielt das alles keine Rolle diese erfüllen?“?

Sallys Leben ist alles andere als leicht. Seit dem Beginn der Corona-Pandemie verbringt sie die meiste Zeit im Haus mit ihren Geschwistern und ihrer etwas skurrilen Mutter, hat nur noch über das Telefon Kontakt zu ihrer besten Freundin, einen Freund, der ihre Unsicherheiten befeuert, aber gleichzeitig ihr einziger Kontakt „nach draußen“ ist und ein ganzes Leben, welches im Moment wie auf Pause gedrückt ist. Doch dann zieht die sechs Jahre ältere Leni als Volontärin ihrer Mutter überraschender Weise ins Haus ein – und bringt sowohl das Hässliche, als auch das Echte und das Wunderschöne in der Familie, aber besonders in Sally hervor.

Es gibt für mich einfach keine Bücher, die vergleichbar mit Anne Freytags Romanen sind. Ihr präziser, empathischer und ehrlicher Schreibstil erschafft von der ersten Seite an diese ganz besondere Atmosphäre, die ich sonst vergeblich suche. Es entsteht ein Gefühl von Alltag (weil sich alles so real anfühlt), von Schmerz, Freude, Unsicherheit und Diskomfort – weil das Leben sich manchmal so anfühlt. Die Protagonistin Sally existiert einfach und wir dürfen als LeserInnen fast schon unangenehm persönliche, sehr verletzliche, aber auch sehr bedeutsame Momente direkt miterleben – als wären wir wirklich in Sallys Kopf. Der ganze Roman läuft eher langsam an, da man Sally tatsächlich „einfach“ in ihrem aktuellen Alltag, der durch Corona eben in ihrem Haus stattfindet, begleitet. Wir lernen ihre unterschiedlichen Geschwister kennen, ihre etwas seltsame, aber in ihrer Art ehrliche Mutter, ihren Freund Felix und ihren Wellensittich Pepe – eben Sallys ganzes Leben. Man muss das als LeserIn mögen – das einfach da sein, zuschauen, sich selbst gesehen fühlen, aber auch mitleiden – langsame Szenen, die sich manchmal ein bisschen wie ein französischer Film anfühlen, weil es nicht immer um die großen Momente geht, sondern um die kleinen Gefühle, die kleinen Gedanken, die einzelnen Blicke und ungesagten Worte.

Ich mochte die Protagonistin. Sally ist „normal“, fühlt sich durch eingeprägte Kommentare und versehentliche Wortwunden „langweilig“, „ungewollt“ und „unzureichend“, verfängt sich in Gedankenspiralen und tut sich manchmal schwer ihre Gedanken laut zu formulieren und ihren eigenen Wert zu sehen. Für manche LeserInnen ist das sicherlich frustrierend, dies über viele hundert Seiten hinweg zu lesen, für mich war es einfach nur authentisch und realistisch. Mit wunderschönen, knappen Sätzen die Gefühle und Stimmungen empathisch einfangen, baut Anne Freytag langsam eine Verbindung zwischen Sally und Leni, während gleichzeitig die Themen Erwartungen, Identität, Angst und Liebe permanent im Raum stehen und auf unterschiedliche Arten diskutiert werden. Die Geschichte entwickelt sich nur langsam, die Gefühle gehen dafür aber umso tiefer. Auch in der Familienkonstellation und in Sallys Beziehung mit Felix und auch mit Leni war das sehr spannend zu beobachten.

Insgesamt hat mich „Vom Mond aus betrachtet, spielt das alles keine Rolle“ vor allem mit Anne Freytags wunderschönem Schreibstil, der authentischen Protagonistin, der interessanten Personenkonstellation und den vielen Gedanken über Liebe, Identität und „genug sein“ zwischen den Zeilen überzeugt und zum Nachdenken angeregt. Trotzdem kommt es für mich nicht ganz an ihre anderen Bücher heran, da sich die Handlung wirklich sehr langsam entwickelt. Zudem sollte man sich bewusst sein, dass das Thema der Pandemie eine zentrale Rolle in der Geschichte spielt.

4 von 5 Sternen