Rezension

Zur Hälfte hin bereits durchschaubar

Heimweh
von Marc Raabe

Bewertet mit 4 Sternen

"Heimweh" handelt von dem ehemaligen Heimkind Jesse Berg, der nun erfolgreich als Kinderarzt praktiziert. Gerade frisch geschieden ist sein Tochter Isa der Mittelpunkt seines Lebens. Doch da wird seine Ex-Frau Sandra ermordet und die gemeinsame Tochter entführt. Die hinzugefügte Nachricht "Du hast sie nicht verdient" kann Jesse jedoch nicht aufhalten und er kämpft darum seine Tochter wiederzubekommen, auch wenn das bedeutet, dass er sich seiner Vergangenheit und den Geheimnissen, die mit seinem Aufenthalt im Kinderheim Adlerhof verbunden sind, stellen muss...

"Heimweh" ist mein erster Marc Raabe-Thriller, daher schicke ich gleich vorweg, dass ich zu seinen viel gelobten Vorgängern nichts äußern kann. Der Thriller startet mit einem sehr spannend konzipierten Prolog, der gleich Lust auf mehr macht. Jesse Berg als handlungstragende Figur ist sympathisch gemacht und doch merkte ich als Leserin schnell, dass ich ihm gegenüber auch etwas skeptisch war. Vielleicht auch einfach ein Erfahrungswert als Thrillerliebhaberin. Dazu gefällt mir die Gesamtstruktur sehr gut. Die Kapitel sind von der Länge her alle ähnlich, ähnlich kurz, so dass die Spannung auch hochgehalten wird und man gar nicht merkt, wie zügig man mehrere Seiten gelesen hat. Die Erzählperspektiven sind klar aufgeteilt und ziehen sich über das gesamte Buch hinweg: Rückblenden und die Geschichte erzählt auch Jesses und Jules Sicht. Dadurch wirkt nichts willkürlich, alles scheint gut durchdacht und dass habe ich als Leserin am liebsten.

Das eigentliche Thrill-Element ist spannend gemacht, das gruselige/geheimsnivolle Heim/Internat ist als Handlungsort natürlich perfekt, da sich dort die mysteriöse Atmosphäre zuspitzt. Nun kommen wir aber zu dem Teil, der mich weniger überzeugt hat. Bereits zur Hälfte von "Heimweh", wenn nicht sogar etwas früher, ist mir klar gewesen, wie die Geschichte ausgeht. Das hat für mich natürlich eine Einbuße an Spannung bedeutet. Natürlich wollte ich meine Theorie überprüft wissen, so dass ich doch bei der Stange gehalten wurde. Zudem wurden auch einige Nebengeschichten, die nicht sofort zu durchblicken waren, noch am Ende aufgelöst, so dass auch wirklich jedes Puzzleteil an seinem Platz war. Aber im Grunde war für mich der letzte Kick, der so ein Thriller einfach bis zum bitteren Ende aufrecht erhalten muss, für mich leider, leider nicht mehr gegeben. Knackpunkt ist aus meiner Sicht die Erzählweise der Rückblenden, denn diese sind einfach sehr offensichtlich auf die Endauflösung zugeschnitten. Entweder man hätte sie ganz weglassen müssen oder noch durchdachter schreiben müssen, so dass das Kernelement doch stets im Dunklen bleibt. Was ich Raabe aber lassen muss, ist, dass die ganze Motivik psychologisch betrachtet sehr schlüssig wirkte. Dadurch wirkte die Geschichte nicht konstruiert, sondern authentisch, fast, als ob eine wahre Geschichte die Vorlage gewesen wäre. Auch wenn sich die Geschichte am Ende zuspitzt, jede Handlung wirkt realistisch, so dass man zu keinem Zeitpunkt den Eindruck erhält: Jetzt fährt der Autor aber nochmal auf und entlarvt damit seine Geschichte als unrealistisch.

Fazit: "Heimweh" hat viele sehr gute Voraussetzungen: der Prolog, die strikte Erzählweise, viele interessant gestaltete Figuren und eine perfekte Atmosphäre. Doch der Weg hin zur Pefektion wird nicht geschafftt, weil die Auflösung der Geschichte schon recht früh offenglegt wird. So fällt die Spannungskurve ab, da am Ende nicht mehr vieles gelöst werden muss. Dennoch zeigt sich mir, dass Raabe als deutscher Thrillerautor einige gute Voraussetzungen mitbringt, so dass ich in seine zwei Vorgänger gerne mal reinlesen werden!