Rezension

Südirland als Willkürsystem

Das Lied des Propheten -

Das Lied des Propheten
von Paul Lynch

Bewertet mit 4.5 Sternen

Als bei Eilish Stack am Abend zwei gesichtslose Polizisten an die Tür hämmern und fordern, ihr Mann Larry solle sie auf der Wache anrufen, ahnt sie sofort, dass es sich um keine Nationalpolizisten der südirischen Garda handelt. Larrys Verhör am späten Abend demonstriert ihm anschließend seinen niederen Status als Regimekritiker. Als stellvertretender Generalsekretär der Lehrergewerkschaft ist er aktuell  an der Organisation einer Lehrer-Demonstration beteiligt. Larry ahnt Böses, da bereits sein Kollege Jim am Tag zuvor nicht nachhause gekommen ist – was Larry bisher in einem zivilisierten Staat wie Irland für unmöglich gehalten hatte. Als auch Larry mitsamt der kompletten Gewerkschaftsleitung verhaftet wird, steht Eilish allein mit ihrem Beruf als Mikrobiologin, vier Kindern (davon eins im Krippenalter) und ihrem alternden Vater Simon da, der noch allein lebt, aber von Tag zu Tag verwirrter wird. Die internationale Presse berichtet bereits über die Vorgänge, während die betroffenen Familien nur Gerüchte hören, ihre Angehörigen würden in Lagern inhaftiert.

Für Eilish eskaliert das Leben unter Notverordnung gegen „einen Feind von außen“ rasant: ein Kollege verschwindet, der 16-jährige Sohn Mark wird zur Musterung aufgefordert, ihre beiden mittleren Kinder reagieren panisch auf die Lage und sie kann für ihre Kinder keine Pässe mehr beantragen. Während anfangs noch die Organisation der  Lehrer-Demonstration Auslöser der anarchischen Zustände zu sein schien, steuert das Land wie im dystopischen Roman unaufhaltsam dem Ende der Zivilisation entgegen. Polizisten sind bald nicht mehr von Wegelagerern zu unterscheiden, Denunziation regiert und Lebensmittel werden knapp. Als Mark in der Zeitung öffentlich genannt wird, haben die Stacks offenbar die letzte Gelegenheit verpasst, das Land zu verlassen …

Fazit

Paul Lynchs Figuren geraten in einen Strudel aus Panik, Misstrauen und Scham, die Familie nicht rechtzeitig geschützt zu haben.  Aus einer Handlung in Südirland mit irischen Darstellern ist in rasantem Tempo die allgemeingültige Schablone geworden für ein Willkürsystem  ohne Strukturen, Gesetze und  Respekt – Systeme, die überall auf der Welt Menschen in die Hände von Schleppern treiben, die sie in Containern und Booten transportieren  …