Rezension

Anders als erwartet aber gut

Der Wald - Nell Leyshon

Der Wald
von Nell Leyshon

Bewertet mit 4 Sternen

Die unerschütterliche Verbindlichkeit einer Beziehung

„Sie hat schon zu viel verloren und weiß, dass es keine Sicherheit mehr gibt. Alles, was wir wirklich wissen, ist das, was der gegenwärtige Moment enthält. Sie muss sich selbst vor der Zukunft schützen und vor dem, was sie am Ende bringen könnte.“

 

Inhalt

 

Pawel wächst in gutbürgerlichen Verhältnissen in Warschau auf und ist durchaus privilegiert, was Bildung und Wohnort anbelangt, doch der Krieg rückt immer näher, der Vater ist im Widerstand gegen den Nationalsozialismus unterwegs, die Mutter und Großmutter rücken zusammen, der Junge merkt, dass sein heiles Leben jeden Moment auseinanderbrechen könnte. Als sein Vater Karol schließlich einen schwer verletzen britischen Soldaten mit nach Hause bringt, hoffen sie nur noch auf das Glück, nicht entdeckt zu werden und als Vaterlandsverräter hingestellt zu werden. Doch bald bleibt ihnen kein Ausweg mehr: Pawel und seine Mutter Zofia, die er abgöttisch liebt, müssen gemeinsam in einer Scheune leben, verborgen im Wald, während Karol immer wieder abtaucht und sie vor der Öffentlichkeit versteckt. Viele Jahre später, der Krieg ist längst vorüber, leben Mutter und Sohn in Großbritannien und immer noch verbindet sie ein gemeinsamer Erfahrungsschatz. Doch so sehr sie sich auch bemühen, die Verbindlichkeit und Verpflichtung, die ihre enge Beziehung geprägt hat, wird nun erneut auf eine harte Probe gestellt.

 

Meinung

 

Nachdem ich im bereits „Die Farbe von Milch“ der englischen Autorin Nell Leyshon gelesen habe, war ich sehr gespannt auf den neuen Roman aus ihrer Feder, zumal mich hier sowohl der Schauplatz als auch die Hintergründe des Krieges, die dieses Buch verspricht, sehr angesprochen haben. Mir hat es auch um einiges besser gefallen, als der Vorgänger, obwohl sich beide Geschichten nur schwer miteinander vergleichen lassen und auch im Schreibstil nicht erkenntlich ist, dass sie von ein und derselben Person verfasst wurden.

 

Grundlegend unterteilt Nell Leyshon ihr Buch in drei große Abschnitte, die Zeit während des Krieges, in der sich die Familie Palinski noch in ihrem häuslichen Umfeld aufhält, die Zeit im Wald, die sich auf das Überleben einer Kleinstgruppe konzentriert und letztlich die Gestaltung der Gegenwart mit verdrehten Rollen, denn nun ist die Mutter gealtert und auf die Hilfe ihres Sohnes angewiesen. Während mir die ersten beiden Abschnitte richtig gut gefallen haben, nimmt der letzte einen doch entscheidenden Stellenwert ein, entfernt sich aber sehr von der ursprünglichen Geschichte. Die Gegenwartshandlung hat dann auch nicht meine Erwartungshaltung an das Buch erfüllt und bietet wenig Parallelen zum Titel und der Ausgangssituation.

 

Das Hauptaugenmerk dieser Geschichte beruht auf der Betrachtung einer Mutter-Sohn-Beziehung, die sich nicht nur auf eine bestimmte Lebensperiode konzentriert sondern sehr detailliert und umfassend die Gefühle der Beteiligten aufgreift und sich mit den Veränderungen innerhalb des Gefüges und der Zeit beschäftigt. Dabei wechselt auch das Verständnis des Lesers für die Emotionen der beiden Hauptprotagonisten. Während in Pawels Kindheit ersichtlich wird, dass sich der Sohn noch viel mehr um die Liebe seiner Mutter bemüht hat, diese aber nur partiell dazu im Stande war, die Bedürfnisse ihres Kindes zu erfüllen, zeigt sich, das in Pawels Erwachsenenleben nach wie vor eine Kluft zwischen den mütterlichen Bedürfnisse und denen des Sohnes klafft. Fast scheint es, als ob beide Parteien einander mehr Verantwortungsgefühl schenken als wahre Zuneigung und dieser Umstand erfüllt mich doch mit einer gewissen Traurigkeit, die allerdings mit dem Kriegsausbruch und seinen Folgen überhaupt nichts zu tun hat.

 

Der Schreibstil ist sehr unaufgeregt, eher still und eindringlich. Er verbreitet keine Dramen, keinen übertriebenen Aktionismus, sondern vielmehr die Entwicklung zweier Charaktere, die beide Kinder ihrer Zeit sind, die sich binden und lösen müssen, Hoffnungen begraben und Träume nicht verwirklichen können. Doch auch die neue Zeit bringt Herausforderungen, denen nicht jeder in gleichem Maße gewachsen ist.

 

 Die Schwermut einerseits und der Wille zur Herausforderung andererseits sind auf jeder Seite spürbar, das macht die Erzählung sehr einheitlich und wirkungsvoll. Und obwohl die Distanz zwischen den echten Gefühlen und den erfolgten Taten doch sehr groß ist, empfinde ich diesen Roman auch als eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Thematik unerschütterlicher Verbindlichkeiten zwischen Kindern und Eltern. Füreinander da sein, sich um den anderen bemühen, aufeinander zugehen, miteinander entscheiden – alles ist möglich, wenn die Beteiligten auch einmal von ihren höchstpersönlichen Wünschen zurücktreten, um allen ein erträglichen Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Nell Leyshon bringt diese Kluft zwischen den egoistischen Wünschen eines Individuums und den auf Liebe basierenden Verzicht für einen anderen Menschen direkt und schnörkellos auf den Punkt. Auch wenn wir nicht alles verwirklichen können, was wir uns wünschen, so bleibt doch die Möglichkeit miteinander einen Teil des Weges zu gehen.

 

Fazit

 

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen nachdenklich stimmenden Roman über Mütter, Söhne und den Verlauf des Lebens ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten Einzelner. Die versprochene Geschichte habe ich aber nicht ganz gefunden, gerade die Episode des Krieges kam mir eindeutig zu kurz und scheint nur der äußere Rahmen zu sein, da habe ich mir im Vorfeld mehr historische Gegebenheiten erhofft. Empfehlenswert ist dieser zeitgenössische Roman für Leser, die sich mit einem vielschichtigen Beziehungsgeflecht auseinandersetzen möchten und die Einblicke in Eltern-Kind-Beziehungen wünschen. Zum Nachdenken regt das Buch an – besonders in Hinblick auf den Umgang mit Menschlichkeit, Verantwortung und Selbstverwirklichung. Mir hat es gut gefallen.