Rezension

Cascadia / sehr lesenswert

Cascadia -

Cascadia
von Julia Phillips

Bewertet mit 5 Sternen

Zwei Schwestern und ein Bär, ein starkes Psychodrama

Die Schwestern Elena und Sam, beide gegen dreißig, leben mit ihrer kranken Mutter auf einer der Inseln Kaskadiens, die wegen ihrer wunderschönen Natur gern von Touristen besucht wird. Aber sie leben im Elend, häufen Schulden an fürs blanke Überleben, für das die mageren Einkünfte aus ihren miesen Jobs in der Gastronomie nicht ausreichen. Schon als Jugendliche träumten sie von einer besseren Zukunft, vom Neuanfang in der Ferne, wenn sie die geliebte Mutter dereinst nicht mehr pflegen müssen.

Der Roman wird erzählt aus der Perspektive der jüngeren Schwester Sam. Die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein. Die schöne, lebenskluge, stets beherrschte und freundliche Elena ist eine starke Persönlichkeit, die bei Sam schon immer die Mutterstelle vertreten hatte, weil die Alleinerziehende arbeiten musste. Sam hingegen scheint eher lebensuntüchtig, eine kratzbürstige Außenseiterin, pampig und unbeliebt. Dass sie alles falsch macht, hat sie früh gelernt. So lebt sie in ihren Träumen von einer besseren Zukunft, eng verbunden nur mit Mutter und Schwester.

Der märchenhafte Rahmen von Schneeweißchen und Rosenrot, die unverbrüchliche Liebe der Schwestern und das plötzliche Auftauchen eines riesigen Bären, der die beiden zu suchen scheint, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich hier ein Psychodrama entwickelt, das auf eine Katastrophe zusteuert. Nach und nach erfahren wir vom frühen Missbrauch der Töchter durch einen Geliebten der Mutter, von Vertrauen zueinander und Misstrauen gegen alle anderen, aber auch von Heimlichkeiten, Verrat und Schuld. Julia Phillips hat in angenehm klarer, präziser und anschaulicher Sprache einen tiefgründigen, sehr lesenswerten Roman geschrieben.