Rezension

Das verlassene Haus...

Nebenan -

Nebenan
von Kristine Bilkau

Bewertet mit 5 Sternen

Ein handlungsreduzierter aber intensiver Roman über Geheimnisse, Sehnsüchte und Ängste - reduziert im Schreibstil, dabei präzise ausgelotet.

Ein kleiner Ort am Nord-Ostsee-Kanal, zwischen Natur, Kreisstadt und Industrie, kurz nach dem Jahreswechsel. Mitten aus dem Alltag heraus verschwindet eine Familie spurlos. Das verlassene Haus wird zum gedanklichen Zentrum der Nachbarn: Julia, Ende dreißig, die sich vergeblich ein Kind wünscht, die mit ihrem Freund erst vor Kurzem aus der Großstadt hergezogen ist und einen kleinen Keramikladen mit Online-Shop betreibt. Astrid, Anfang sechzig, die seit Jahrzehnten eine Praxis in der nahen Kreisstadt führt und sich um die alt gewordene Tante sorgt. Und dann ist da das mysteriöse Kind, das im Garten der verschwundenen Familie auftaucht.Sie alle kreisen wie Fremde umeinander, scheinbar unbemerkt von den Nächsten, sie wollen Verbundenheit und ziehen sich doch ins Private zurück. Und sie alle haben Geheimnisse, Sehnsüchte und Ängste. Ihre Wege kreuzen sich, ihre Geschichten verbinden sich miteinander, denn sie suchen, wonach wir alle uns sehnen: Geborgenheit, Zugehörigkeit und Vertrautheit. (Klappentext)

Es ist jetzt schon einige Wochen her, dass ich diesen Roman beendet habe, und immer noch habe ich das Gefühl, mit einer Rezension der Erzählung nicht gerecht werden zu können. Kristine Bilkau hat mit ihrer Komposition, dem melancholisch-leisen Ton, dem verdichteten und dabei doch so präzise ausgeloteten Schreibsil bei mir jedenfalls einmal mehr ins Schwarze getroffen.

Im Grunde ist dieser Roman eher handlungsarm. Die Perspektive wechselt stetig zwischen der Enddreißigerin Julia, die mit Mann und Hund in ein kleines Dorf am Nord-Ostseekanal gezogen ist, und der etwa sechzigjährigen Astrid, deren Mann bereits im Ruhestand ist, und die selbst darüber nachdenkt, ihre Arztpraxis zu verkaufen und nur noch wenige Tage in der Woche zu arbeiten. Der eigentliche Fokus des Romans liegt auf der Gedanken- und Gefühlswelt der beiden weiblichen Hauptcharaktere, und auch das kann ungemein spannend sein. Kristine Bilkau jedenfalls lotet hier geheime Wünsche, Sehnsüchte und Ängste aus, wodurch der Roman eine große Intensität erlangt.

Als dritter Protagonist fungiert hier noch ein verlassenes Haus, dessen Bewohner, eine fünfköpfige Familie, von einem Tag auf den anderen verschwunden ist. Der Briefkasten quillt über, und vor allem Julia als direkte Nachbarin macht sich so ihre Gedanken. Hätte sie etwas bemerken müssen? Probleme der Nachbarn erkennen? Auf sie zugehen?

 

"Eine Trennung, ein Streit um das Sorgerecht, psychische Erkrankungen, finanzielle Probleme, die meisten Familien bemühten sich doch eher darum, jede Art von Schwierigkeit so lange wie möglich mit sich allein abzumachen. Wie gut musste man einen Menschen kennen, um etwas zu bemerken, um sicher sein zu können, dass etwas nicht stimmte? Und wie konnte man sicher voneinander unterscheiden, was Vermutungen und was Vorurteile waren? Wie nah musste man einem Menschen sein, um aus einem Verdacht heraus eine Frage stellen zu können, ohne neugierig oder aufdringlich zu wirken?" (S. 74)

 

Doch bei diesen Fragen bleibt es nicht. Wie gut kennen wir eigentlich die, denen wir nahestehen? Hält nicht jede:r Geheimnisse verborgen, die, wenn sie ans Tageslicht kommen, Bilder verändern können? Was geschieht mit uns, wenn wir obsessiv einem Lebenstraum hinterherjagen und uns darüber zu verlieren drohen? Wie sehr beherrschen Ängste das Leben und unser Handeln? Fragen, denen sich die Charaktere im Buch stellen müssen, die aber auch den/die Leser:in anrühren. Sind das nicht existentielle Fragen?

Wie nebenher flicht Kristine Bilkau noch weitere Themen ein und streift Problemfelder wie die Landflucht junger Menschen, die Vergreisung ganzer Landstriche, die Verödung von Innenstädten und deren schrumpfende Attraktivität, die lieblose Maschinerie künstlicher Befruchtung, die Hoffnungslosigkeit angesichts skrupelloser Umweltverschmutzung, die Vereinsamung des Einzelnen in der Gesellschaft. So zusammengefasst erschlägt es einen beinahe, aber die Autorin bemüht sich um eine erträgliche Dosis, die allerdings den melancholischen Grundton stetig speist.

Ein handlungsreduzierter, leiser aber intensiver Roman über Geheimnisse, Sehnsüchte und Ängste - reduziert im Schreibstil, dabei präzise ausgelotet. Für mich ein Jahreshighlight!

 

© Parden