Rezension

Der politische Professor

Friedrich Christoph Dahlmann - Wilhelm Bleek

Friedrich Christoph Dahlmann
von Wilhelm Bleek

Bewertet mit 5 Sternen

Es war der erste November 1837, als der frischgebackene König Ernst August das Staatsgrundgesetz für das Königreich Hannover aufhob. Erst vier Jahre zuvor hatte sein Vorgänger Wilhelm IV. dieses Grundgesetz bestätigt und in Kraft gesetzt, das dem Bürgertum und den Bauern den Zugang zur Zweiten Kammer der Ständeversammlung verschaffte. Dem neu an die Macht gekommenen Monarchen war dies ein Dorn im Auge. Seine rückwärtsgewandte Machtdemonstration rief den Widerstandsgeist der Göttinger Professorenschaft auf den Plan. Aber letztlich waren es dann doch nur sieben, die den Mut besaßen, eine Protestation an den König zu verfassen. Unter ihnen fanden sich auch die Sprach- und Literaturwissenschaftler Jacob und Wilhelm Grimm. Federführend beim Verfassen der Protestation war Friedrich Christoph Dahlmann.

Dahlmann war einer der ersten, die forderten, dass aktuelle Staatspolitik aus der Geschichte lernen müsse. Die Geschichte Großbritanniens bewunderte er und sah sie wegen ihrer gleichzeitigen Bewahrung bewährter Verfassungsstrukturen und deren Anpassung an veränderte gesellschaftliche und politische Realitäten als vorbildhaft an.

Friedrich Christoph Dahlmann war mein Ur-ur-urgroßvater. Ich muss Euch daher um Entschuldigung bitten, dass dieser Text den Rahmen einer gewöhnlichen Rezension etwas sprengen wird und ich, aus ganz egoistischen Gründen, ein wenig mehr ins Detail gehen werde.

Friedrich Christoph war das sechste von sieben Kindern; seine Mutter Lucie Auguste starb nur drei Jahre nach seiner Geburt. Als Kind war Friedrich Christoph kränklich, scheu, ungelenk, verschlossen und schweigsam. Er war Autodidakt. Erst mit zwölf Jahren besuchte er ein Gymnasium. Wie so viele gebildete junge Menschen heute, so praktizierte auch der junge Friedrich Christoph die Weltflucht ins Bücherregal. Bei ihm waren es die alten Griechen, die seine Begeisterung weckten. Kein Wunder, dass er sich in Kopenhagen für das Studium der alten Sprachen einschrieb. Aus seiner Passion für die antiken Dichter und Denker leitete sich auch seine weltbürgerliche Offenheit ab.

Nachdem der junge Dahlmann schon viel von der Welt jenseits seiner Heimatstadt Wismar gesehen hat (Studium in Halle, Roadtrip nach Wien mit Heinrich von Kleist), tritt er 1811 seinen ersten Job an der Universität zu Kopenhagen an. Und plötzlich ist er dann Professor für Geschichte in Kiel, wird zum "Sekretär der fortwährenden Deputation" ernannt (so eine Art Interessenvertreter des schleswig-holsteinischen Adels), gibt die „Kieler Blätter“ heraus und kämpft für die Wiederherstellung der Verfassung der beiden Herzogtümer Schleswig und Holstein. Dabei scheut er auch nicht die Konfrontation mit seinem Onkel, der ihm den Ritterschaftsposten beim dänischen König besorgt hatte und nun die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Des Weiteren macht ihm zu schaffen, dass in Folge des Kotzebue-Attentats 1819 die Pressefreiheit massiv eingeschränkt und die Universitäten gegängelt werden. Obwohl Kiel mit den Studentenunruhen gar nichts zu tun hat, ist seine Uni betroffen - mitgefangen, mitgehangen.

1829 wird Dahlmann nach Göttingen berufen. Er kann die Professur dort allerdings erst Monate später antreten, weil sein bisheriger Arbeitgeber, die dänische Krone, ihn aus Rache für seine politische Unbotmäßigkeit mehrere Monate lang hinhält.
1831 wird er mit der Ausarbeitung einer Verfassung („Staatsgrundgsetz“) für das Königreich Hannover beauftragt, die dann 1833 von König Wilhelm IV. gebilligt und eingesetzt wird.

Und jetzt tritt Ernst August von Hannover auf den Plan. Der ist eigentlich Herzog von Cumberland und kann noch nicht mal richtig deutsch. Im Juni 1837 tritt er als Thronfolger des verstorbenen Wilhelm IV. seine Regenschaft über das Königreich Hannover an, vertagt die Ständekammern, damit diese nicht protestieren können und löst sie zum 30.10. ganz auf, setzt das Kabinettsministerium ab, und hebt - obwohl dem Monarchen alle konsultierten Autoritäten einschließlich Metternich davon abgeraten haben - am 1.11.1837 das Staatsgrundgesetz auf. Mit der Begründung hat er einen windigen Juristen beauftragt. In der Universität will man das nicht hinnehmen. Man hat ja bereits einen Treueeid auf die Verfassung geschworen. Wie soll man denn nun noch als moralische Instanz vor die Studenten treten, wenn der eigene König einen zwingt, eidbrüchig zu werden?

Und dann sind es doch nur sieben wackere Göttinger Professoren, die übrigbleiben und mutig die von Dahlmann (im Krankenbett) aufgesetzte Protestation an den König unterzeichnen. Am 19. November 1837 wird die Protestation versandt; am 21. gibt es schon mehrere tausend Abschriften, die im ganzen Land kursieren (fleißige Studenten!). Die Entlassung der sieben Professoren durch Ernst August erfolgt prompt; Dahlmann wird sogar des Landes verwiesen. Er fordert seine Studenten ausdrücklich auf, ruhig zu bleiben und sich nicht an Ausschreitungen zu beteiligen (die Ur-ur-urenkelin ist ein wenig gerührt, wenn sie so etwas liest). Außerdem bieten alle sieben Professoren an, Vorlesungshonorare zurückzuzahlen ("der Seckel der Studirenden ist nicht gemacht, um Professoren aus der Klemme zu helfen.") Es sind dann zwischen 400 und 700 Studenten, die in einer kalten Dezembernacht 25 km zu Fuß von Göttingen nach Witzenhausen laufen (weil die Universitätsbehörde die Lohnkutscher bedroht hat, bei Strafe keine Studenten zu befördern), um sich von ihren Lehrern zu verabschieden.

Ein Exil findet Dahlmann zunächst in Leipzig, wo die Bürger bereits eine hohe Meinung von ihm haben und fleißig Spenden für die entlassenen Professoren sammeln. Im April 1838 zieht Dahlmann nach Jena um, um sich dort zum stillen wissenschaftlichen Arbeiten zurückzuziehen und seine "Geschichte Dänemarks" abzuschließen. Ernst August intrigiert derweil fleißig auch über die Landesgrenzen hinaus, damit Dahlmann und seine Freunde nirgendwo anders Anstellung bekommen. Als Anführer der Sieben hat Dahlmann von allen den schwersten Stand. Über sein Refugium Jena sagt er, er wolle dort bleiben, „bis etwa die Zeit kommt, da man es uns verzeiht, dass wir ehrliche Leute sind.“
Nun setzt sich auch Alexander von Humboldt beim preußischen König für Dahlmann ein. Aber dann tritt Bettine von Arnim auf den Plan. Jacob Grimm hat Vorurteile gegen sie (war ja klar), und auch Dahlmann ist die selbstbewusste Initiative der Dichterin unheimlich. Aber ihr Erfolg gibt ihr Recht. Was kein noch so einflussreicher Mann schafft, gelingt einer gewitzten, poetisch veranlagten Frau in einer Art Brief-Flirt mit dem Kronprinzen und späteren König. Sie überzeugt ihn, die Brüder Grimm an die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin zu holen. Nicht lange danach wird Dahlmann an die Universität Bonn berufen.

Wenn Ihr es geschafft habt, bis hierhin zu lesen, gebührt Euch durchaus ein Orden. Gerne würde ich Euch auch noch eine ausführliche Schilderung der späteren Vorgänge in und um die Frankfurter Paulskirche liefern (auch hier war Dahlmann mit von der Partie), aber die von Herrn Bleek hier präzise und anschaulich wiedergegebenen Ereignisse sind so komplex, dass ich den Versuch jetzt gar nicht erst wage, sondern auf diese wirklich hervorragende Biographie verweise. Vom Leser wird zwar ein gewisses Maß an Hartnäckigkeit erwartet (vor allem wenn es um Themen wie z.B. die Geschichte der Quellenkritik geht), aber es lohnt sich.

Mir gefällt Bleeks klar konturierte Analyse und Einordnung von Dahlmanns politischer Einstellung. Dabei lässt er auch Kritik von Zeitgenossen an einer gewissen Unflexibilität meines Urahnen nicht zu kurz kommen. Mir gefällt auch sehr, wie der akribisch recherchierende Bleek verschiedene Expertenmeinungen zu bestimmten Vorgängen nebeneinander stellt und sich hütet, vorschnelle Urteile abzugeben. Bleek zieht auch interessante Parallelen zwischen Dahlmann und Luther, den der Politikprofessor sehr bewunderte. Beide lehnten radikale Revolutionen ab, wollten Erneuerung, um zu bewahren. Als Verfechter eines passiven Widerstandsrechts der Bürger gegenüber dem Staat in gewissen despotischen Fällen steht Dahlmann tatsächlich ganz in der protestantischen Tradition Martin Luthers. Aber Dahlmann erklärte auch "mit allem Nachdruck, dass das von ihm vertretene Recht auf einen passiven Widerstand keine aktive, umstürzlerische Revolution legitimieren würde, sondern diese gerade verhindern sollte. Das Widerstandsrecht war ihm ein Notwehrrecht zur Aufrechterhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung." (Bleek)

"Ich will mich nicht besser machen als ich bin; aber schweigend der Zerstörung aller menschlichen Ordnung zusehen, nur zu beten und zu seufzen, so nicht gesetzliche Mittel bleiben, oder zu sagen, wie ein Beamter des Landes, 'ich unterschreibe Alles, Hunde sind wir ja doch!' halte ich des Mannes, des Christen unwürdig."

(Friedrich Christoph Dahlmann)

Kommentare

lesesafari kommentierte am 13. Juni 2021 um 18:37

Du bist fertig!! Klingt nach einem spannenden Lebensweg, umso mehr, wenn man mit dem Mann verwandt ist. Der war ja bei ganz vielen geschichtlichen Ereignissen dabei.

Arbutus kommentierte am 13. Juni 2021 um 22:19

Ja, das ist sehr spannend. Gerade habe ich noch in einer anderen antiquarisch erhaltenen Biographie seine eigene Schilderung der Reise mit Kleist in den Krieg  gelesen. Ich finde es gerade unglaublich interessant, so um ihn herum die Zeit zu erforschen. Jetzt bin ich gespannt auf einen alten Roman über ihn aus dem Anfang des 20. Jh. 

Naibenak kommentierte am 14. Juni 2021 um 08:37

Das ist ja toll! Und echt interessant! :-)

Arbutus kommentierte am 14. Juni 2021 um 22:45

Hallo lieb Bi, schön Dich hier zu treffen! Überhaupt erfreulich, dass Ihr alle meine Rezi hier gefunden und auch offensichtlich gelesen habt (trotz der Länge...)

wandagreen kommentierte am 14. Juni 2021 um 16:52

Well done!

Vllt bist du auch mit Charles mit den großen Ohren irgendwie verwandt?

Arbutus kommentierte am 14. Juni 2021 um 22:49

Nee, das wohl weniger. Die Wurzeln reichen dann doch eher in andere Richtungen. : )