Rezension

„… der Sieg der Zivilisation über den Instinkt“ (S. 92)

Golden Boy - Aravind Adiga

Golden Boy
von Aravind Adiga

Bewertet mit 4 Sternen

~~Aravind Adiga hat in seinem dritten Roman „Golden Boy“ viel zu erzählen darüber, wie Menschen einander manipulieren und betrügen und damit letztlich auch sich selbst. Er schreibt über enttäuschte Träume und Hoffnungen. „Manju kannte den Blick: Erschöpfung, die daher rührt, dass man tagein, tagaus Leute treffen muss, die mehr von einem wollen, als man ihnen geben will.“ S. 202

Mohan Kumar hat große Träume und Hoffnungen: sein älterer Sohn Radha soll der beste Schlagmann beim Cricket werden, der jüngere Manju der zweitbeste. Alles wird diesen Plänen und dem Trainingsregime untergeordnet, keine Kohlenhydrate, kein Junkfood, eiserne Disziplin – und Kontrolle über jegliche pubertären Begehrlichkeiten. Manju ist wissenschaftlich interessiert – der Vater wirft selbst Experimente für die Schule weg. „Mit seinen vierzehneinhalb Jahren war Radha klar, dass die Regeln seines Vaters, die ihm die Welt ringsum gerahmt hatten, Gefängnisgitterstäbe waren.“ S. 38 Reine Ablehnung ist hier eine zu einfache Lösung: gerade für Jungen aus den Slums, gerade innerhalb der Zersplitterung des Vielvölkerstaats Indien mit seinen Religionen und Ethnien ist der sportliche Erfolg DIE Chance auf sozialen Aufstieg – und (über-)ehrgeizige Eltern gibt es leider überall.

„Cricket ist der Sieg der Zivilisation über den Instinkt“ S. 92 Der indische Autor schreibt darüber – denn in diesem Umfeld leben seine Protagonisten, hieran machen sie diese Träume und Hoffnungen fest. Das „funktioniert“ auch für einen Leser außerhalb des Commonwealth, des „Einzugsgebietes“ für Cricket, wenngleich man natürlich wenig von den Regeln und Ritualen versteht – man kann einfach stattdessen an Fußball denken oder an American Football. In Deutschland kann man sagen, man sei beispielsweise von jemandem beruflich ins Abseits gestellt worden, einfach, weil die Fußball-Begrifflichkeit so omnipräsent ist – auch ohne die Regeln komplett nachvollziehen zu können. Die Betrügereien mit Fußballwetten finden ihr indisches Pendant. „Wir sind von uns selbst besessen, ohne an uns zu glauben – das ist genau die Definition der indischen Mittelschicht, die diesen Betrugssport eben deshalb so sehr liebt.“ S. 283

Für die begabten Brüder bietet der sportliche Erfolg eine Chance – dabei liegt die tragische Ironie durchaus auch darin, dass sie mit diesem Erfolg ihrem kontrollsüchtigen Vater entgehen können gerade INDEM sie dessen Erwartungen erfüllen. Und durch den Sport öffnen sich ihnen auch immer wieder Türen zu anderen Welten, anderen Möglichkeiten. So lernt Manju den moslemischen Cricketspieler Jarved kennen. Dieser widersetzt sich der wenn auch sanfteren Manipulation seines reichen Vaters und beendet dessen Cricketträume. „Aber was willst du denn machen, wenn du kein Cricket mehr spielst?“ fragt ihn Manju. Jarved: „Alles“ S. 198 Das sexuelle Erwachen von Manju verkompliziert die Situation, da er nicht den gesellschaftlichen Vorgaben entspricht.

Nach einem etwas schwierigeren Start in die Handlung wegen der vielen Sportbeschreibungen (einfach weiterlesen) und fremden Begriffe aus Indien (meist Regionen, Sprachen, Gerichte – einfach gelegentlich nachschlagen) konnte ich mich einlesen, mir blieb aber ein Problem: Immer, wenn einer der Charaktere mich zu berühren anfing, wechselte der Autor die Perspektive. Ich hatte ein wenig das Gefühl, als wisse er selbst nicht so sehr, ob er nun die Geschichte von einem seiner Charaktere erzählen wollte – am ehesten die von Manju – oder über die indische Gegenwart oder über das Dilemma des Erfüllens von Träumen anderer, und als trete er deshalb immer wieder in eine gewisse Distanz zu seinen Figuren. Außerdem schildert der Autor eindrucksvoll bestimmte Sachverhalte oder Ereignisse, die er später auch auflöst oder zumindest Ansätze bietet (wie Manjus „Gedankenlesen“), während er bei anderen für mich völlig diffus bleibt, ohne dass es sich um ein stilistisches Mittel zu handeln scheint (Manju und die Taube). Insgesamt also für mich kein ungetrübter Genuss wegen zu vieler offener Fäden, wobei ich sprachlich durchaus angetan war. 3,6 Punkte....