Rezension

Deutsch-deutsche Geschichte

Schneckenmühle - Jochen Schmidt

Schneckenmühle
von Jochen Schmidt

Bewertet mit 4 Sternen

Der 14jährige Jens aus Berlin fährt in den Sommerferien in das Ferienlager Schneckenmühle in Sachsen. Allerdings darf der Leser keinen Roman über die ausgelassenen Urlaubsunternehmungen einer Jugendgruppe erwarten. Sicherlich werden auch Wanderungen, Ausflüge, sportliche Aktivitäten, Diskobesuche und erste Annäherungen an Mädchen geschildert. Das Besondere aber ist die Zeit, in der der Roman spielt.

 

Es ist der Sommer 1989. Aufgrund von Altersbeschränkungen darf Jens zum letzten Mal ins Ferienlager, was für ihn das Ende seiner Kindheit bedeutet. Parallel dazu wird das Ende des Staates DDR eingeläutet, dem Staat, dem Jens als so ziemlich einziger in Schneckenmühle durchaus kritisch gegenübersteht und deshalb sogar als „total verhetzt“ (S. 112) gilt („Ich wolle auf keinen Fall ‚normal‘ sein“ – S. 121; „Wir haben nicht das Gefühl, mit diesen Dingen etwas zu tun zu haben oder irgendwann damit konfrontiert zu werden, hier für Besserung zu sorgen“. – S. 136). Jens persönliche Einstellung gründet wohl in der Erziehung seiner Eltern, die christlich eingestellt und nicht angepasst an das staatliche System sind. Trotzdem will Jens im Grunde, dass sein Leben weiterläuft wie bisher („Stell dir mal vor, es ist nichts mehr da, wenn wir nach Hause kommen, daß unsere Heimat nicht mehr existiert“ – S. 207; „Gott sei Dank ist der Spuk vorbei, alles ist wieder wie immer. In vier Jahren kommen wir alle als Leiter, und wenn wir Kinder haben, werden die in unseren Bungalows in unseren Betten schlafen und alles erleben, was wir auch erlebt haben.“ – S. 217). Fehlende oder unzureichende materielle Dinge (wie schlecht haftendes Klebeband, Walkman, Schallplatten, Cassetten, Ketchup) kompensiert er durch Hamstereinkäufe in Intershops o.ä., wann immer er dazu Gelegenheit hat.

 

Weil Jens die Umwälzungen viel zu schnell gehen, nimmt er sie zunächst gar nicht bewusst wahr. Über das plötzliche Verschwinden des Gruppenleiters stellt er nur Vermutungen an (Flucht in den Westen?). Vom verrauscht übertragenen Beitrag im Westfernsehen über Urlauber, die über den Zaun eines Campingplatzes klettern, fühlt er sich nicht tangiert. Den auf der Toilette gefundenen, nur in Bruchstücken vorliegenden Zeitungsausschnitt, in dem die DDR dementiert, die Reisen ihrer Bürger nach Ungarn und andere Ostblockländer einschränken zu wollen, kann er ohnehin nicht im Zusammenhang lesen. Selbst als ihn seine Eltern vorzeitig unter Verschweigen ihres Vorhabens aus dem Ferienlager abholen, um mit ihm nach Ungarn und von dort weiter in den Westen zu fahren, begreift Jens noch nicht, dass auch er jetzt direkt von den Umwälzungen betroffen ist. „Sie wollen (ihm) später etwas Wichtiges erklären, wenn (sie) eine Rast machen“ – S. 220.

 

Einziger konstanter Faktor ist letztlich allein das nicht fiktive sächsische Ferienlager Schneckendorf, das es noch heute gibt.

 

Erzählt wird der Roman aus der Ich-Perspektive von Jens. Der Erzählstil wirkt manchmal etwas sprunghaft, werden doch viele einzelne vergangene und gegenwärtige Ereignisse aneinandergereiht. Das passt jedoch gut zur oft ja auch sprunghaften Gedankenwelt eines Jugendlichen sowie auch zu den sich überschlagenden Ereignissen in der DDR im Sommer/Herbst 1989.

 

Das Cover passt hervorragend zum Buch, sollen doch langhaarige Jugendliche in der DDR als suspekt gegolten haben, so wie es ja auch keine Drogenabhängigen, keine Pornographie und Schönheitswettbewerbe gab (S.211). Die leicht raue Qualität des Papiers des Schutzumschlages erinnert an die Papierqualität in der DDR (Jens Vater war immer auf der Suche nach Büchern aus gutem Papier).

 

Wer in der DDR aufgewachsen ist, wird sich an vieles (gerne? wehmütig?) erinnern (z.B. dass Schnittblumen selten waren und Westverwandte Pakete schickten). Allen anderen gibt das Buch einen guten Einblick in das Leben der DDR. Ein Roman, der jugendlichen und erwachsenen Interessenten an der jüngeren deutschen Geschichte nur ans Herz gelegt werden kann.