Rezension

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Ein unbequemes, aber wichtiges Buch

Die Tochter -

Die Tochter
von Kim Hye-jin

Bewertet mit 4 Sternen

Die Tochter ist über 30, arbeitet befristet als Lehrkraft an einer Universität, ist unverheiratet, lebt jedoch seit Jahren in einer lesbischen Beziehung. Mit ihrer Mutter hat sie sich vor Jahren überworfen. Nun aber kann sie sich die Miete nicht mehr leisten und zieht notgedrungen wieder bei der Mutter ein. Und sie bringt ihre Freundin mit. Kim Hye-Jin erzählt in ihrem Roman "Die Tochter" die Geschichte dieser erzwungenen Zweck-WG und den daraus entstehenden Spannungen, denn die konventionelle Mittsechzigerin ist mit dem Lebensentwurf ihrer Tochter so gar nicht einverstanden. Entgegen der meisten Comingout-Romane nimmt die südkoreanische Autorin hierfür eine recht ungewöhnliche Perspektive ein und lässt die Geschichte nicht etwa von der Tochter oder ihrer Freundin erzählen, sondern strikt aus Sicht der homophoben Mutter.

Es ist noch nicht zu spät. Such dir einen anständigen Mann und heirate. Hab Kinder. Jeder macht Fehler, wenn er jung ist. Du hast noch Zeit, alles zum Guten zu wenden.(S. 90)

Im Alltag prallen die unterschiedlichen Ansichten von Mutter und Tochter immer wieder aufeinander und zeigen doch, dass beide vieles eint. So nimmt z. B. soziale Verantwortung einen hohen Stellenwert in ihrem Leben ein, auch wenn beide eine unterschiedliche Auffassung davon haben, wie man dieser nachkommen sollte. Die Mutter etwa kümmert sich um eine Patientin namens Tsen. Diese hat sich in ihrem Leben viel für andere eingesetzt und ihre Ersparnisse für andere aufgewendet, statt eine Familie zu gründen. Jetzt, da sie alt ist, ist sie allein und niemand kommt sie besuchen. Weil sie sich nicht mehr wehren kann und ihre Demenz voranschreitet, wird an Inkontinenz- und Verbandsmaterial gespart und man plant, sie in eine andere Einrichtung zu verlegen. Die Mutter versucht den Mangel durch Fürsorge wett zu machen und legt sich mit der Klinikleitung an, wodurch sie sogar ihre befristete Anstellung aufs Spiel setzt. Ihre Tochter hat es sich derweil zur Aufgabe gemacht, öffentlichkeitswirksam gegen die ungerechte Entlassung homosexueller Lehrkräfte zu demonstrieren. Durch Zufall erlebt die Mutter eine dieser Demonstration mit und gerät dabei versehentlich in die gewalttätige Gegendemonstration. Die erlebten Auswirkungen von Homophobie und Queerfeindlichkeit sind ein prägendes Ereignis für sie. Zwar kehrt sich ihre Geisteshaltung dadurch nicht um, aber ihr Grundton wird versöhnlicher.

Ich kann nicht mehr die Haltung der Gegenseite vertreten. Ich darf nicht. Ich kann doch diesen Kindern nicht sagen, sie sollen im Verborgenen bleiben, schweigen, sich unauffällig verhalten, als gäbe es sie gar nicht, oder direkt von der Bildfläche verschwinden und sterben. Wie könnte ich mich auf die Seite derer stellen, die so etwas sagen? Aber das heißt noch lange nicht, dass ich diese Kinder von Grund auf verstehe. (S. 145)

Die vermeidlich kategorische Ablehnung von Homosexualität entpuppt sich schnell als mütterliche Angst, die Tochter könnte durch ihren Lebensstil zu einem sinnfreien Dasein als Außenseiterin verurteilt sein, die auf wahres Glück und Erfüllung verzichten muss. Ein durchaus nachvollziehbares Motiv und ein Umstand, der die Mutter gleich viel weniger unmenschlich zeigt, als sie anfänglich noch erscheint. Doch der Roman geht weit über den Mutter-Tochter-Konflikt und das Thema Homosexualität hinaus. Offen kritisiert die Autorin diverse gesellschaftliche Missstände wie misogynen Frauenrollen oder prekären Arbeitsverhältnissen in Südkorea, aber auch Altersarmut, Einsamkeit und Menschenrechte werden thematisiert. Und hier zeigt sich die größte Schwäche des Buches: Es versucht zu vieles gleichzeitig zu sein - Entwicklungsroman, Comingout-Roman, Gesellschaftsroman… Die rund 170 Seiten reichen meist nicht aus, um den zahlreichen Handlungszweigen und -gegenständen gerecht zu werden. Vieles bleibt ungesagt - nicht nur zwischen den Figuren.

Dennoch gelingt es der Autorin den Leser mitzureißen, schont dabei nicht mit Details und macht in ihrem Buch auch sonst vieles richtig. Die zwischenmenschlichen Beziehungen und Konflikte, haben ihre ganz eigene Dynamik und Tragik - vor allem Mutter und Tochter. Obwohl sich ihre Leben zunehmend überschneiden, will ihnen eine Annäherung nicht recht gelingen. Die dadurch erzeugte, bedrückende Grundstimmung wird von dem nüchternen, zurückhaltenden Schreibstil wunderbar eingefangen und unterstrichen. Homosexualität wird eher aus der Ferne betrachtet und lediglich durch kleine Gesten wie Armumlegen angedeutet - so wie die Mutter es durch ihren distanzierten Blick wahrnimmt. Ihre Engstirnigkeit und Verbohrtheit sind meist kaum auszuhalten und machen es nicht leicht, sich mit dieser Heldin zu identifizieren. Andererseits sind ihre Beweggründe so gut nachzuvollziehen. Diese Hin- und Her-Gerissenheit bescheren eine emotionale Berg-und-Tal-Fahrt und nötigen wieder und wieder dazu, das Bild der Mutter neu zu überdenken und sich in sie hineinzuversetzen. Die (An)Spannung wird auf diese Weise konstant aufrecht gehalten.

Alles in allem ist "Die Tochter" von Kim Hye-Jin ein mutig erzähltes und thematisch wichtiges Buch über das Zusammenspiel von Tradition und Moderne, falschen Erwartungen und der Möglichkeit zur Veränderung. Ein sehr physischer Roman, der unbequem ist und nachhallt.