Rezension

Späte Herausforderungen

Die Tochter -

Die Tochter
von Kim Hye-jin

Bewertet mit 5 Sternen

Ich bin begeistert! Ich mag (süd)koreanische Literatur. Sie ist kühl und gut.

Dieser Roman aus Südkorea ist etwas Besonderes. 

Eine etwas über sechzig Jahre alte südkoreanische Witwe fühlt sich alt, sie hat ein heruntergekommenes Haus, wovon sie Teile vermieten musste, kommt aber mit den Mieteinnahmen nicht klar, weil die Mieter unverschämterweise ständig neue Reparaturen fordern und sich nicht damit abfinden wollen, dass das Dach undicht ist. Deshalb, um über die Runden zu kommen,  hat sie über eine Jobvermittlung eine Stelle als Pflegerin in einem privaten Altenheim angenommen. 

Die Witwe kämpft an mehreren Fronten ums Überleben. Beruflich ist die Betreuung der dementen alten Frau Tsen, der sie als Pflegerin zugeteilt ist sowohl eine physische wie auch eine psychische Herausforderung. Denn in dem Heim herrschen nicht gerade die besten Pflegebedingungen und es wird immer schlimmer. Unsere Protagonistin beklagt sich nie, denkt sich aber ihren Teil. Privat muss sie sich damit auseinandersetzen, dass ihre Tochter lesbisch ist, seit sieben Jahren mit einer festen Partnerin zusammenlebt und wohl niemals heiraten wird oder Kinder bekommt. Das aber wäre ihre Vorstellung von einem gelungenen Leben. Die einzige mögliche Vorstellung gelingenden Lebens.  

 Die Witwe fühlt sich zwischen Empathie, Mitmenschlichkeit und ihrem Überlebenswillen und persönlichen Wünschen zerrieben. Sollte alles das, was sie sechzig Jahre lang gelebt hat und das, was man ihr eingetrichtert hat, Mund halten, sich nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, falsch sein oder zumindest nicht die ganze Wahrheit? Sollte man gesellschaftliches Engagement nicht anderen überlassen? 

Der Kommentar: 
Die Autorin bringt die Konflikte ihrer Protagonistin schmerzhaft auf den Punkt. Beiden Handlungssträngen gelingt es, den Leser mitzunehmen, ihn mitleiden und mitfühlen zu lassen, und das trotz einer kühlen distanzierten Schreibweise. Die ich sehr liebe! 

Natürlich ist es in einem inneren Monolog allein, unmöglich, alle Aspekte der angeschnittenen Themen umfassend zu behandeln, sie sind viel komplexer als im Buch dargestellt, aber das muss auch nicht sein, deutlich wird, gesellschaftliches Engagement hat seinen Preis. Veränderung ist nicht zum Nulltarif zu haben. Aber auch die frühere, gängige Praxis, unliebsame Kinder einfach zu verstoßen, hatte und hätte seinen Preis. 

Unter großen Schwierigkeiten meistert unsere Protagonistin, die stellvertretend für die gesamte ältere Generation Südkoreas stehen dürfte, die großen moralischen Herausforderungen ihres Lebensabends. 

Fazit: Wunderbar herausgearbeitetes inneres Dilemma und gleichzeitig harte Gesellschaftskritik. Chapeau! Was dürfen wir von dieser Autorin (geboren 1983) noch erwarten? 

Kategorie: Belletristik.
Verlag: Hanser. Berlin, 2022