Rezension

Eindrucksvolle Schnitzeljagd durch ein von Bürgerkrieg gebeuteltes Land

Vor einem großen Walde -

Vor einem großen Walde
von Leo Vardiashvili

Saba ist noch ein Kind als er mit seinem Vater und seinem zwei Jahre älteren Bruder vor dem Bürgerkrieg in Georgien nach England flieht. Doch das Geld reicht nicht für die Mutter. Jahrelang müht sich der Vater ab, doch es kommt nie genug Geld zusammen, um die Mutter nachzuholen. Weitere Jahre später macht sich der Vater auf die Suche nach der Mutter und reist nach Georgien. Als seine Kommunikation abbricht, reist der ältere Bruder Sandro ebenfalls nach Georgien, doch auch seine Lebenszeichen bleiben aus. Sowohl Vater als auch Bruder haben eine Brotkrumenspur hinterlassen und so entschließt sich Saba, trotz Warnungen dieser Spur in Georgien folgen.

Nicht nur die Brotkrumenspur verbindet diese Geschichte mit der Märchenwelt. Saba und Sandro lieben Literatur und ihre Kindheitserinnerungen bestehen unter anderem aus einer Mutter, die ihnen Märchen erzählt. So sind auch die Hinweise, die Sandro hinterlässt, immer wieder Märchen entlehnt und führen Saba auf eine Schnitzeljagd durch das unbekannte Heimatland. Auch die Stimmung der Geschichte ähnelt oft einem düsteren Märchenwald, wenn Saba beispielsweise durch den dunkelnden Stadtpark läuft, während die Sicherheitsbehörden die nach einer Flut entlaufenen Zootiere suchen, unter denen sich auch Wölfe und Tiger befinden. Und dennoch bleibt die Stimmung nicht durchweg düster, sondern vermittelt oft auch Leichtigkeit und Lesespaß. Saba trifft bereits bei seiner Ankunft am Flughafen in Tbilissi auf den Taxifahrer Nodar, zu dem sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Die beiden frotzeln miteinander herum und vermitteln dadurch eine eigene Art von Humor. Dabei verkörpert Nodar die gute georgische Seele und das Sprichwort "Ein Gast ist ein Geschenk". Über Nodar erfährt man beim Lesen viel über die Gepflogenheiten in Georgien und dadurch, dass Saba das Land so jung verlassen hat, muten Nodars Erklärungen auch nicht konstruiert an.
Das Buch hat jedoch auch eine sehr ernste Seite, denn Georgien ist geprägt von einem Bürgerkrieg und die überwunden geglaubten sowjetischen Machtstrukturen bestehen fort, der Machtapparat ist durchzogen von Korruption, Einschüchterung und Gewalt. Auch der anhaltende Konflikt mit Russland, welcher dem Buch eine aktuellpolitische Dimension gibt, klingt immer wieder an, besonders im Alltag der Figuren. Fast alle haben im Bürgerkrieg Verluste erlitten, so bekommt auch Nodar abseits der Clownereien eine tiefere, traurige Dimension. Auch Saba wird durch die Geister seiner Verlorenen, die regelmäßig und teilweise zu den ungünstigsten Zeitpunkten mit ihm sprechen, immer wieder von der Vergangenheit eingeholt. Einige davon sind lauter als andere. So hat das Buch passend zum Märchenthema noch Elemente magischen Realismus`.
Das Buch wechselt hin und her zwischen leichten und teils skurrilen Momenten, Spannung und berührenden Emotionen. Saba muss die Leute überlisten, die hinter seinem Vater, seinem Bruder und nun auch ihm her sind. Dadurch bekommt das Buch Züge eines Schelmenromans. Am Ende verfliegt diese Leichtigkeit und die Nachwirkungen des Bürgerkriegs kommen noch einmal eindringlich zur Geltung, wenn Saba in das immer noch umkämpfte Ossetien reist.

Mit diesem Buch bekommt man einen unterhaltsamen, berührenden und nachdenklich machenden Eindruck eines Landes, von dem man abseits der tagesaktuellen Nachrichten wenig weiß und welches noch immer von Konflikten mit Russland geprägt und teilweise traumatisiert ist. Vermittelt wird dies über einen sympathischen Protagonisten, der ähnlich wenig weiß über sein Herkunftsland und mit dem man auf eine eindrucksvolle Reise in einem klapprigen Wolga geht, die ein großes Lesevergnügen und viel Verständnis beschert.