Rezension

Schnitzeljagd durch Georgien

Vor einem großen Walde -

Vor einem großen Walde
von Leo Vardiashvili

Bewertet mit 3 Sternen

Leo Vardiashvili, 1983 in Georgien geboren, lebt seit seinem zwölften Lebensjahr in England. Er ist Steuerberater und hat nun seinen ersten Roman veröffentlicht, in dem er viel aus seiner eigenen Biographie verarbeitet hat.
Der Ich-Erzähler Saba ist noch ein Kind, als er 1992 mit seinem Vater und dem zwei Jahre älteren Bruder Sandro vor dem Bürgerkrieg Georgien nach London flieht. Die Mutter bleibt vorerst zurück, denn das Ersparte reicht nicht für ihr Visum.
Der Vater Irakli arbeitet hart, um sie nachkommen zu lassen. Endlich hat er das Geld beisammen, doch der freundliche Landsmann, der sie aus Georgien holen soll, erweist sich als Betrüger.
Letztendlich stirbt die Mutter, ohne ihre Familie jemals wieder gesehen zu haben.
Elf Jahre nach dem Tod seiner Frau, die Söhne sind längst erwachsen, reist Irakli zurück in die alte Heimat, um seine toten und lebenden Verwandten zu besuchen. Doch dann hören die Brüder nichts mehr von ihm. So macht sich Sandro auf den Weg nach Georgien, aber auch er scheint dort zu verschwinden. Nun reist Saba ihm nach. 
Schon kurz nach seiner Landung gerät Saba ins Visier der Polizei. Aber er findet auch im Taxifahrer Nodar einen verlässlichen Freund. Gemeinsam mit ihm macht sich Saba auf die Jagd nach den geheimen Botschaften, die Sandro ihm hinterlassen hat. Es ist ein lebensgefährliches Abenteuer, das die beiden Männer quer durch die Viertel von Tbilissi führt und schließlich zu einem Kloster im Kaukasus und am Ende bis über die Grenze nach Ossetien vor einem großen Walde.
Immer dabei sind auch die Geister der verstorbenen Familienmitglieder und Freunde, als ermutigende Stimmen im Kopf von Saba.
Es gibt aber noch weitere surreale und märchenhafte Elemente in diesem Roman. So irren beispielsweise Nilpferde, ein Tiger und andere wilde Tiere durch die Straßen und Wälder von Tbilissi. Dabei greift Leo Vardiashvili auf ein tatsächliches Ereignis zurück, das in Wirklichkeit erst später stattfand. 2015 sind aus dem Zoo von Tbilissi Tiere ausgebrochen. 
Auch der Titel „ Vor einem großen Walde“ verweist auf ein Märchen der Gebrüder Grimm. „ Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern,…“ so beginnt „ Hänsel und Gretel“. Und so wie diese Kinder Brotkrumen auf den Weg streuen, um wieder nach Hause zu finden, so verteilt Sandro überall seine rätselhaften Botschaften, die nur sein Bruder verstehen kann. 
Leo Vardiashvili erzählt von Georgien und dessen unheilvoller Geschichte. Ein Land, das an der Schnittstelle von Europa und Asien liegt, und das schon immer die Begehrlichkeiten anderer Mächte geweckt hat. Georgien war auch eine der ersten Sowjetrepubliken, die nach Unabhängigkeit strebten. Doch damit kamen Gewalt und Krieg ins Land. 
Der Roman beschreibt die Auswirkungen von Krieg und Gewalt, Flucht und Vertreibung am Beispiel einer Familie. Er zeigt auch , was der Verlust der Heimat bedeutet.
Dabei scheint immer wieder die Liebe zu Land und Leuten durch. So entstehen vor den Augen des Lesers die alten malerischen Viertel der Hauptstadt und die wilde Landschaft abseits der Zivilisation. Auch erfährt man viel über georgische Bräuche und die Kultur des Landes, so z.B. die legendäre Gastfreundschaft. „ Jeder Gast ist ein Geschenk Gottes“, so lautet ein georgisches Sprichwort. Doch der Autor verschweigt auch nicht die weniger schönen Seiten des Landes, so z.B. die allgegenwärtige Korruption.
„ Vor einem großen Walde“ ist ein spannender Roadtrip durch ein mir unbekanntes Land und gleichzeitig eine anrührende Familiengeschichte. 
Doch die überbordende Fabulierfreude des Autors hat leider zu einigen Längen im Buch geführt. Auch hätte ich auf die vielen märchenhaften Elemente verzichten können und hätte weniger skurrile Momente und kauzige Figuren gebraucht.