Rezension

Eine aufreibende Lektüre

Der Koffer - Robin Roe

Der Koffer
von Robin Roe

Es gibt Bücher, die mich sprachlos machen können. Meist sind es Bücher, die sich mit einer sehr schwierigen und erschütternden Thematik beschäftigen und mit vielen dramatischen Ereignissen meine Emotionen aufwühlen. „Der Koffer“ von Robin Roe ist so ein Buch und es fällt mir wirklich sehr schwer die richtigen Worte zu finden, um mein Leseerlebnis zu beschreiben. Besonders, weil mir Robin Roe auf erschreckende Weise klargemacht hat, was für furchtbare Schicksale einige Menschen durchleben müssen, ohne dass jemand Außenstehendes auch nur den Hauch einer Ahnung hat, was der Betroffene gerade durchmacht. Die Ereignisse in diesem Buch haben mir auch verdeutlicht, wie vorschnell wir andere Menschen in Schubladen stecken, ohne nach einem möglichen Grund für ein bestimmtes Verhalten zu suchen. 
Der literarischen Hauptfigur Julian passiert es auch sehr oft, denn aufgrund einer Lernschwäche – für die sich nicht einmal die Lehrer interessieren – und seinem zurückhaltenden Wesen, wird er oft für dumm gehalten und als Sonderling abgestempelt. Keiner fragt sich, warum Julian ist, wie er ist. Dabei hätte er ziemlich viele Gründe vorzubringen, die beweisen, dass er eben nicht dumm ist.

Julian trägt ein schweres Schicksal mit sich herum, denn er verlor als 9-Jähriger seine Eltern durch einen Autounfall.  Nach einem kurzen Aufenthalt in einer liebevollen Pflegefamilie musste er zu seinem herrschsüchtigen Onkel ziehen, dem er nichts rechtmachen kann. Wirklich verwunden oder verarbeiten konnte Julian die vergangenen Ereignisse nicht. Dafür ist die Umgebung, in der er jetzt lebt, viel zu kalt und rau. Und außer einem Koffer voller Geheimnisse und einigen Erinnerungen an seine Mutter und seinen Vater ist ihm nichts mehr geblieben. 
Julian hat sich mit seinem neuen Leben, das so viel liebloser ist als sein altes, arrangiert und hat hier und da einen sicheren Ort gefunden, an dem er einfach sein kann – ohne das Mobbing seiner Mitschüler oder die Maßregelungen seines Onkels.

"Ich habe einfach ein ungutes Gefühl. Wie ein Reh in einem dieser Tierfilme, das die Ohren spitzt, obwohl es den Wolf noch gar nicht sieht. Aber spürt, dass da eine Gefahr ist." Seite 216

Genau so könnte ich mein Gefühl beim Lesen beschreiben, denn die Atmosphäre, die zwischen den Zeilen emporsteigt, ist knisternd und bedrohlich, weil man als Leser meist ahnt, dass früher oder später etwas geschieht, von dem man wirklich erschüttert wird. Und von diesem unguten Gefühl wird man nicht betrogen. Es geschehen wirklich schreckliche Dinge, die furchtbar verstörend sind. Manchmal muss man das Gelesene auch selbst erst verarbeiten, um weiterlesen zu können.

Um die Stimmung nach den wirklich bedrückenden Passagen etwas aufzulockern, hat Robin Roe eine besondere literarische Figur eingesetzt, die abwechselnd mit Julian über das Geschehen berichtet: Adam, der ehemalige Pflegebruder von Julian. Dieser warmherzige, tollpatschige und dennoch coole Junge ist ein Segen für Julian und den Leser. Mit seinem Wesen erhellt Adam die dunklen Stunden. 
Der sonst so verschlossene Julian ist in Adams Gegenwart ein anderer. Bei ihm ist er sicher und Julian traut sich nach und nach, dank vieler aufbauender Worte und Momente mit seinem größeren Pflegebruder, aus seiner Isolation heraus.

In „Der Koffer“ lässt Robin Roe ihre beiden literarischen Hauptfiguren - sprachlich einfach und klar - eine wirklich bewegende und erschütternde Geschichte erzählen. Die Handlung wirkt sehr lebendig und wir Leser werden zu stummen Zeugen - auch wenn wir beim Lesen manchmal gerne laut aufschreien würden - von einer wunderbaren Freundschaft, aber auch von vielen verstörenden Ereignissen. "Der Koffer" ist ein Buch, das trotz der enthaltenen gewalttätigen Szenen so viel Liebe und Hoffnungen und wunderbare Botschaften enthält. All dies machte dieses Buch zu einem schrecklich schönen Leseerlebnis. Obgleich mich die verstörenden Ereignisse in der Handlung wohl noch sehr lange beschäftigen werden. 
 

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