Rezension

Eine Familiengeschichte im Banat in poetischer bildhafter Sprache

Die Unschärfe der Welt - Iris Wolff

Die Unschärfe der Welt
von Iris Wolff

Bewertet mit 5 Sternen

Geschichte über mehrere Generationen einer Banater Familie – von Ceaușescu bis heute – poetisch, bildhaft, nachdenklich

'In einem Buch beheimatet sein...' (41)

Dieses Zitat aus dem Buch passt gut, denn ich habe ich mich tatsächlich dort 'zu Hause' gefühlt, obwohl mir die Gegend fremd ist: das Banat in Rumänien. Es wurde in seiner Weite und Schönheit so eindrücklich und poetisch geschildert – z.B. wie der Schnee alles verändert oder die wunderbare Beschreibung des Lichts in den Karpaten (46) - dass ich die Heimatgefühle der deutschstämmigen Bevölkerung dort gut verstehen kann.

Auch die eigenwillige, freiheitsliebende Florentine, die aus der Stadt kommt, fühlt sich auf dem Lande wohl, obwohl sie viel Arbeit im alten Pfarrhaus und im Garten hat. Es ist ihre Familie und die ihres Mannes Hannes, über deren Träume und Sehnsüchte wir einiges erfahren, über ihre Liebesgeschichten und ihre Probleme.

Denn: es ist nicht alles einfach in diesem diktatorischen Staat unter dem autokratischen Herrscher Ceaușescu, der seine Bespitzelung bis in die Dörfer hineintragen lässt.

Auch sonst wird einiges an Kritik geübt, mit leichter Hand, meist poetisch, aber auch da und dort mit zynischem Unterton: die Situation im medizinischen Bereich, der Umgang mit Abtreibungen, Verhöre durch die Geheimpolizei 'Securitate', Schule und Bildung (87/88).

'Dieses System lebte davon, dass jeder schuldig war.' (59)

Doch auch die westliche Konsumgesellschaft wird aufs Korn genommen und den Versorgungsengpässen in Rumänien gegenübergestellt. Dort Hunger und Armut - hier Überfluss in allen Bereichen. Und wir schämen uns nicht, Lebensmittel von dort zu importieren.

Alle diese Themen werden nur kurz angerissen, sind nicht Hauptthema des Buches. Wer mag, kann sich selbst über die sozialistischen Jahre Rumäniens informieren, z.B. bei Wikipedia

https://de.wikipedia.org/wiki/Rum%C3%A4nien#Sozialistische_Republik

oder in diesem interessanten Artikel der FAZ:

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/rumaeniens-verlorene-jahrzehnte-m...

Es gefällt mir, wenn ich in einem Buch viele Sätze zum Markieren finde, solche, die mich zum Nachdenken anregen oder in viel schöneren Worten als ich es könnte, eigene Erfahrungen ausdrücken. Hier ein paar Kostproben:

... weil Worte 'nicht an die Wirklichkeit von Erfahrungen heranreichen können (22)

die große, immerwährende Verschwörung der Dinge (25)

Was einem selbst half, musste nicht das Richtige für jemand andere sein. (45)

Doch das Leben schuldet einem nichts, schon gar nicht die Erfüllung der Wünsche. (48)

Die Erinnerung ist ein Raum mit wandernden Türen. (69)

'Ein Buch war nicht mehr dasselbe, wenn man es gelesen hatte.' (155)

'Jedes Buch hatte seine Zeit. Es vorher lesen zu wollen, war töricht, es zu spät zu lesen, vergeblich.' (175)

Auch wenn ich den Eindruck hatte, dass die Autorin zum Schluss ein wenig zu zeitrafferisch vorgeht, so hat das meinen positiven Gesamteindruck nicht geschmälert. Ich kann dieses Buch jedem empfehlen, der leise Bücher in poetischer Sprache mag. Mir hat es viel gegeben: inhaltlich, menschlich und sprachlich.