Rezension

Eine Freundschaft in Briefen

84, Charing Cross Road - Helene Hanff

84, Charing Cross Road
von Helene Hanff

Bewertet mit 5 Sternen

“Von meinem Stuhl aus ist mir London viel näher als die 17 th Street.”
Zitat, Seite 28

1949 beginnt zwischen Helene Hanff, einer Bühnenschriftstellerin aus New York, und dem Londoner Antiquar Frank Doel ein reger Briefwechsel, der über 20 Jahre andauern soll. Was als schlichte Korrespondenz von Geschäftsbriefen beginnt, entwickelt sich über die Jahre zu einer vertrauensvollen Brieffreundschaft zwischen zwei Menschen, die trotz der Entfernung zueinander eine gemeinsame Leidenschaft teilen: Die Leidenschaft für Bücher.

Hanff, die über die Jahre ihre Suche nach antiquarischen Büchern vertrauensvoll in Doels Hände gelegt und die Belegschaft der Marks & Co Buchhandlung in London und darüber hinaus deren Familien in ihr Herz geschlossen hat, setzte mit der Veröffentlichung dieser Briefe in “84, Charing Cross Road” dieser außergewöhnlichen Beziehung ein Denkmal.

“Ich will IHNEN, Frank Doel, nur eines sagen: Wir leben in verkommenen, zerstörerischen und degenerierten Zeiten, wenn eine Buchhandlung – eine BUCHHANDLUNG – damit anfängt, schöne alte Bücher auseinander zu reißen, um sie als Einpackpapier zu verwenden.
Ich sagte zu John Henry, als er ausgewickelt war: “Hätten Sie das für möglich gehalten, Eminenz?”, und er verneinte.
Sie haben das Buch in einer großen Schlachtszene auseinander gerissen, und ich weiß nicht einmal, um welchen Krieg es sich handelt.”
Zitat, Seite 32

Die in “84, Charing Cross Road” veröffentlichten Briefe zwischen Helene Hanff und Frank Doel sind ein wahrer Schatz und bereits nach wenigen Seiten wird mir klar, warum so viele Millionen Menschen vor mir ihr Herz an dieses kleine bescheidene Büchlein verloren haben: Es ist eine Hymne an die Literatur, an die Freundschaft und an den Austausch in Briefen. Es spiegelt die Beziehung zwischen zwei Menschen wieder, die allein durch die Liebe zu den Büchern entfacht, und über die Jahre gefestigt wurde.

Helene Hanff hat als schlagfertige New Yorkerin bei der Korrespondenz stets die Oberhand und schreckt nicht davor zurück dem liebenswerten Frank Doel zu gegebenem Anlass zurecht zu weisen. Sie feuert derartige Wagenladungen voller Empörung und Missmut auf den zurückhaltenden Doel, dass man befürchtet, er würde vor Scham im Boden versinken. Und dennoch hält er Hanffs Schimpftiraden, die der Korrespondenz so viel Witz und Esprit verleihen, stand. Er konzentriert sich stets aufs Wesentliche: dem Besorgen und Zusenden von Hanffs Wunschliteratur.

"Das nennen Sie Pepys’ Tagebuch!?
Das ist nicht Pepys’ Tagebuch, das ist die elende Zusammenstellung von Exzerpten aus Pepys’ Tagebuch, herausgegeben von irgendeinem übereifrigen Kerl, der in der Hölle verfaulen möge!
Ich könnte ausspucken davor!”
Zitat, Seite 55

Mit der Zeit werden die Briefe persönlicher und Hanffs Ton mitfühlender und umgänglicher. Der anfänglich zweckdienlichen Anweisung von Bestellungen weicht ein liebevoller Umgang mit dem loyalen Buchhändler und seiner Familie. Eine Vertrautheit wächst zwischen den beiden Buchliebhabern, wie man sie sonst nur zwischen wirklich guten Freunden finden kann. So kommt nicht nur die benötigte Literatur sondern auch das Zeitgeschehen aus Politik, Sport und dem alltäglichen Leben zur Sprache. Gefühle und Denkansätze werden ausgetauscht, mit der sich zwei völlig Fremde einander Stück für Stück zu öffnen scheinen.

“Ich liebe Widmungen auf dem Vorsatz und Randnotizen; ich mag das Gefühl von Verbundenheit, das entsteht, wenn ich Seiten umschlage, die jemand vor mir bereits umblätterte, und Abschnitte lese, auf die jemand, der schon lange nicht mehr lebt, meine Aufmerksamkeit gelenkt hat.”
Zitat, Seite 48

Das ergreifende Werk “84, Charing Cross Road” bewirkt mit seinen bescheidenen 158 Seiten so viel mehr, als man es vermutet und berührt deshalb vermutlich auch so viele Leserherzen. Es hat mich verzaubert und wird als 2002 erschiene deutsche Erstausgabe für immer einen ganz besonderen Platz in meinem Bücherregal ergattern. Wie schade, dass Helene Hanff bereits 1997 verstorben ist. Die Theater- und Buchautorin, die über viele Jahre hinweg vergeblich auf den Durchbruch wartete, stand der erfolgreichen und einschneidenden Publikation von Briefen, die nie im Hinblick auf eine Veröffentlichung geschrieben wurden, bis zum Ende mit aufrichtigem Staunen gegenüber. Ein Charakterzug, der Helene Hanff nicht nur sympathisch sondern sicherlich auch zu einem Vorbild für Viele macht.