Rezension

Eine Hommage an die Liebe einer Familie

Wenn ihr uns findet - Emily Murdoch

Wenn ihr uns findet
von Emily Murdoch

Manchmal passiert es, dass mich ein Buch so bewegt, dass ich am Ende keine Worte finde. Ich sitze still, presse mir weinend das Buch an die Brust und wiege still vor und zurück. Und auch, wenn ich dann völlig überfordert bin, nicht weiß, wohin mit mir und meinem Kummer - eigentlich sollte jedes Buch genau das mit mir machen. Mich aufwühlen, beeindrucken, mir den Atem verschlagen, verzweifelte Emotionen wecken - im positiven, wie negativen Sinne. Katniss im Dorf der Sieger. Ky, der Cassia seine Geschichte auf Papier erzählt. Dobby, Fred, Snape, Lupin und Tonks, die im finalen Kampf gegen Voldemort sterben. Manchmal gelingt es, für meinen Geschmack viel zu selten.

Wenn ihr uns findet hat es seit langer Zeit mal wieder geschafft. Ich kann gar nicht genau erklären, warum eigentlich. Aber so ist das eben, wenn man nicht die richtigen Worte findet.

Carey und ihre selektiv mutistische Schwester Nessa leben halb verwildert im Wald, seit ihre Mutter von einem Besuch in der Stadt, um neue Konserven zu besorgen, nicht zurück gekommen ist. Die letzten Jahre haben sie zu dritt im Wald gelebt, fern ab der Zivilisation, nur mit dem Nötigsten, immer hungrig, immer frierend, immer irgendwie überlebend. Gerade, als das Essen endgültig knapp wird, tauchen Careys Vater und eine Mitarbeiterin des Jugendamts auf. Carey und Nessa müssen den Wald verlassen und kommen fortan beim Vater und dessen neuer Familie unter. Während Nessa im neuen Umfeld aufblüht, kann sich Carey nicht einfügen. Zu groß sind die Verletzungen der Vergangenheit, zu furchtbar die schrecklichen Erlebnisse ihrer Jugend, zu bösartig die von der Mutter implementierten Erinnerungen an den Vater.

Ganz, ganz langsam - mit viel Geduld, Kraft, Mut, einer neuen Freundin, der ersten zarten Liebe und Verständnis - gelingt es Carey, einen Platz in ihrem neuen Leben zu finden. Aber die Angst überschattet alles. Die Angst davor, jemand könnte heraus finden, was Carey im Wald tun musste, um zu überleben. Doch nur wenn schließlich alle Geheimnisse gelüftet werden, kann Carey wirklich glücklich werden.

Das Buch stand lange auf meiner Buchliste und als ich es schließlich in den Händen hielt, konnte ich es nicht wieder zur Seite legen. Von der ersten Seite an war ich wie verzaubert. Auch wenn ich mich zuerst an Careys unbeholfene, holprige Sprechweise gewöhnen musste, haben mich die sprachlichen Bilder, Metaphern und Bedeutungen zwischen den Zeilen sofort in ihren Bann gezogen. Immer wieder schossen mir Tränen in die Augen, ich musste mir Zitate notieren, Worte auf der Zunge zergehen lassen, Klöße im Hals schlucken, Sätze verdauen und den Atem anhalten. Vor allem, als Carey am Ende ihr Geheimnis und damit den Grund für Nessas Verstummen verrät, wusste ich nicht mehr, wohin mit meinem Kummer.

Dass Glück und Liebe für jeden etwas anderes bedeuten, und je nach Bedeutung besonders fragil sind, ist in diesem Buch wieder einmal ganz besonders deutlich zu erkennen. Das, was zuletzt bleibt, ist die Familie. Wie auch immer die aussieht. Mit genug Liebe kann sie jede Form annehmen.

Kommentare

Tine kommentierte am 30. März 2015 um 01:35

Oh, so eine rührende Rezension. Ich notier mir das Buch gleich auf meiner Wunschliste :)