Rezension

Eine wahrhaft düstere Dystopie mit bleibendem Eindruck.

Memento - Die Überlebenden - Julianna Baggott

Memento - Die Überlebenden
von Julianna Baggott

Lange Jahre nachdem die Bomben fielen, schlägt sich Pressia gemeinsam mit ihrem Großvater durch und kämpft tagtäglich ums Überleben. Als jedoch ihr sechzehnter Geburtstag naht, muss sie ihre Existenz mehr denn je verheimlichen und sich vor der OSR, dem gewaltsamen Militärregime, verstecken. Als sie ihren Namen jedoch tatsächlich auf der Liste der gesuchten Jugendlichen wieder findet, bringt sie das Schicksal mit Bradwell zusammen. Dieser erzählt ungeheuerliche Geschichten: Das Kapitol hätte den Bombenangriff von langer Hand aus geplant! Unsicher ob sich darin Wahrheit oder Lüge abzeichnet, hilft Bradwell ihr, als das Unglaubliche geschieht: Ein Reiner, ein Mensch aus dem Kapitol, namens Pattridge bricht aus um seine wahrscheinlich noch lebenden Mutter zu finden. Und ausgerechnet Bradwell und Pressia müssen ihm dabei helfen. Auf ihrer Reise jedoch stellen sie schnell fest, dass sich die Geschichte um Pattridge auf ungeheuerlicher Weise mit ihrem eigenen Schicksal verknüpft und sie erkennen müssen, das alles, was ist und war auf einer einzigen Lüge beruht...

» Man denkt, man hat jede Menge Zeit, und dann hat man doch keine. «
(Zitat aus: Memento ~ Die Überlebenden, S. 457)

"Ein dumpfes Brummen erfüllte die Luft, vielleicht eine Woche nachdem die Bomben gefallen waren - es war nicht ganz einfach, die Zeit im Auge zu behalten." Mit diesem ersten Satz beginnt der Prolog im ersten Band der "Memento"-Serie, Die Überlebenden. Dabei beginnt die Geschichte Julianna Baggott's neun Jahre, bevor die Bomben fielen mit dem Prolog eines bisher unbekannten Person, welche sich jedoch schnell als Mutter der Protagonistin Pressia herausstellt. Schon nach ein paar knappen Seiten findet sich der Leser in einer düsteren und hoffnungsvollen Atmosphäre wider, welche sich, wie einem beim Lesen bald klar wird, durch den gesamten Roman zieht. Hoffnung gibt es kaum in einer von Bomben zerstörten Welt. Dafür umso mehr Leid, Trauer - und vor allem Verlust. Denn jeder der Überlebenden hat unzählige Verluste hinnehmen müssen, ein ungeheures Leid erlebt und mehr Trauer erfahren, als einem Menschen zustehen sollte. Dabei stellen Erinnerungen, Mementos, den wichtigsten und kostbarsten Schatz der Bewohner dar und sie tauschen diese, um sich ihren Lebenswillen in einem letzten Rest von Würde und Verzweiflung zu bewahren.

Die Handlung als solche zu charakterisieren stellt sich innerhalb der Geschehnisse als sehr schwierig heraus. Es bildet sich während der Ereignisse und bei Betrachtung der Reise der Protagonisten eine unterschwellige Unmut beim Leser, ein Gefühl des Unwohlseins. Denn das, was dort thematisiert wird, ist nichts für schwache Nerven. Daher wirkt die Atmosphäre des Romans auch kontinuierlich düster, dunkel und extrem hoffnungslos. Vertrauen und Freundschaft sind rar, Misstrauen und Gewalt an der Tagesordnung. Die Autorin hat hier eine Welt mit einer Gesellschaft geschaffen, die jedem lebendem und denkendem Mensch aus den Grundfesten heraus missfallen sollte - und regt somit auf sehr vielschichtigen Ebenen zum Nachdenken an. Dabei nehmen einige Ereignisse und gesellschaftlich dirigierte Normen (vor Allem innerhalb des Kapitols) teilweise mehr als absurde Wegrichtungen ein. Hier zu nennen wäre beispielsweise die Idee der Schaffung von Elitekriegern - stärker, schneller und klüger als jeder normale Mensch. Eine reine Kampfmaschine, mit dem alleinigen Zweck der Eliminierung von Störfaktoren. Dies geschieht mittels sogenannter Gencodierung, welche im Roman einen enorm wichtigen Punkt anspricht und Fragen über Fragen über die fragwürdige Vorgehensweise der Menschen liefert. Oder die Tatsache der Bestimmung, wer sich fortpflanzen darf und wer nicht. Wer auch nur leicht von der Norm abweicht, wird gleich ins Theraphiezentrum gesteckt - und kommt nur selten wieder heraus.

Die Charaktere des Romans sind keine typischen Siegertypen, keine Figuren, mit denen man sich leicht identifizieren könnte - aber Trauer und Mitgefühl sind definitiv Emotionen, die ein jeder mit ihnen verbindet. Pressia als Protagonistin kämpft schon ihr gesamtes Leben ums Überleben, hat Dinge gesehen, die kein Kind im zarten Alter von sechzehn Jahren gesehen haben sollte. Gleiches gilt für Bradwell, der ebenfalls eine Schlüsselrolle innerhalb des Romans einnimmt. Beide zeichnen sich durch gemeinsame Eigenschaften wie Mut und einen stark ausgeprägten Überlebensinstinkt aus. Doch sie besitzen auch unterschiedliche Ansichten und müssen sich mit ihrem eigenen, ambivalenten Inneren auseinander setzen, was für beide nicht leicht sind. Natürlich findet sich auch eine Liebesgeschichte wieder, die allerdings eine minimale Rolle einnimmt und den Schwerpunkt der Geschichte in keinster Weise beeinflusst. Interessant als Figur ist auch Pattridge, der als Reiner die Bombenanschläge im Kapitol überlebt hat. Nach seiner Flucht stellt er immer mehr alles in Frage, was er dort über die Außenwelt gelernt hat und muss nicht nur gemeinsam mit den anderen beiden ums nackte Überleben kämpfen, sondern sich selbst einigen Bewusstseinskonflikten stellen und das Geheimnis um seine verschollen geglaubte Mutter aufdecken, wodurch er auch viel von seiner bislang verschwommenen Kindheit erfährt. 

Bemerkenswert an diesem Roman ist auch die Schaffung neuer Wesen und die innovativen Ideen, die Autorin Baggott damit verknüpft. Wesen, mehr Mensch als Tier, die in den Deadlands und Meltlands leben und alles mit sich reißen und zerfleischen, was sich ihnen (und ihrer Nahrung) in den Weg stellt. Selbst die Figuren sind auf bizarre Art und Weise entstellt, spielt die Storyline doch in einer verseuchten Stadt nach einem Bombenangriff, der Menschen, Tiere und Gegenstände miteinander verschmelzen ließ. So ergeht es auch den Protagonisten Pressia und Bradwell. Anstatt einer Hand besitzt Pressia nur noch einen Puppenkopf, der mit ihr verwachsen ist. In Bradwells Rücken flattern Flügel von mit ihm verschmolzenen Vögeln. Die meisten haben unendlich viele Narben, sind mit Metall oder auch Glassplittern übersät, die in die Haut der Leute eingeschmolzen sind und Gegenstände ersetzen ganze Gliedmaßen, Körperteile oder auch Organe der Überlebenden. Auch dies zeigt deutlich, in welch frustrierender Lage sich die Menschen außerhalb des Kapitols befinden und mit welchen Problemen sie sich rumschlagen müssen.

Schlussendlich  bietet der Roman trotz - oder genau wegen - seiner dunklen und hoffnungslosen Atmosphäre das perfekte Setting einer Dystopie, ohne Friede-Freude-Eierkuchen-Storyline. Es zeigt ein Bild der Hoffnungslosigkeit, wodurch eine extreme Endzeitstimmung vorherrscht, welche den Leser unweigerlich zum Nachdenken anregen. So unglaublich manche Geschehnisse sind, so düster alles zu sein scheint und so wenig Hoffnung auch noch vorherrscht spürt man als Leser denselben Tatendrang, den auch die Figuren der Handlung immer und immer wieder weitertreiben, in der Hoffnung, etwas an ihrer Situation ändern und die Wahrheit ans Licht bringen zu können. Mit dem Höhepunkt der Handlung und einem abschließendem Epilog legt Julianna Baggott die Messlatte für den zweiten Band der Trilogie sehr hoch - und bringt die Leser dazu, ungeduldig eben diesem Folgeband entgegen zu fiebern.

Fazit

Die Überlebenden von Julianna Baggott ist eine außergewöhnliche Dystopie, die einer Endzeitstimmung extrem nahe kommt. Hoffnung, Freude und Vertrauen gibt es in einer Welt der Überwachung, des Misstrauens und des nackten Überlebens nicht. Mit einer durchgehend düsteren Atmosphäre und spannenden Ereignissen bringt die Autorin mit dem ersten Band der Memento-Trilogie ihre Leser zum Nachdenken und lässt uns mit einer elementaren Frage zurück: Wie weit werden die Menschen wohl gehen?

Pro & Contra

+ Düsteres Setting
+ Individuelle Charaktere
+ Innovative Aspekte und Ideen
+ Passender Buchtitel zur Story
+ Ambivalenz der Figuren
+ Spannung
+ Endzeitstimmung ohne Friede-Freude-Eierkuchen

0 Anspruchsvoll auf psychologischer Ebene

Bewertung:

Handlung: 5/5
Charaktere: 4,5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 5/5