Rezension

Erschütternde und nachhallende Geschichtsstunde

Zorn der Lämmer -

Zorn der Lämmer
von Daniel Wehnhardt

Bewertet mit 5 Sternen

Ausgezeichnet erzählter, sorgfältig recherchierter Roman, der auf wahren Begebenheiten beruht und spannend den Weg zur Bildung der Untergrundorganisation Nakam schildert.

Dass selbst beinahe 78 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und damit dem Ende der unaussprechlichen Verbrechen, die im Namen des deutschen Volkes an allen Menschen, die dem Unrechtssystem ein Dorn im Auge waren, allen voran an sechs Millionen Juden verübt wurden, immer noch Aufarbeitung stattfindet, in Form von Foren, vor allem aber in der Literatur, ist bezeichnend. Und wichtig! Wider das Vergessen! Auf dass sich die Geschichte nie, niemals wiederholen möge! Dass dem aber dennoch so ist, so viele Versuche der Aufarbeitung ein Volk, in dem die Vergesslichkeit längst wie ein böses Virus umgeht, auch gemacht werden, ist eigentlich unbegreiflich und, wie ich es auch drehe und wende, scheint mit der im Menschen angelegten Gewaltbereitschaft verknüpft zu sein. Das Dritte Reich mit all seinen Implikationen war nicht das erste seiner Art, Völkermorde gab es seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte und gab es auch nach dem Ende des von den Deutschen angezettelten Krieges unzählige Male, bis auf den heutigen Tag, ob in Vietnam, Kambodscha, dem Kongo, in Burundi, Sri Lanka, Afghanistan, Chile oder auf dem Balkan. Kaum vorstellbar, dass nun auch noch ein als so hoch entwickelt geltendes Land wie Russland mitten in Europa Kriegsverbrechen begeht, die nach dem gleichen Prinzip ablaufen, ebenso grausam, wie die von den Nazis verübten!

Aber kommen wir zu Daniel Wehnhardts hier zu besprechendem Roman mit dem bezeichnenden Titel „Zorn der Lämmer“! Ein, um es vorwegzuschicken, ganz hervorragendes Buch, sorgfältig und gründlich recherchiert, mitreißend geschrieben und so spannend, wie es nur wirklich gute Kriminalromane sein können. Mit einem Unterschied freilich: es erzählt eine wahre Geschichte, natürlich mit den Mitteln eines Romans, also auch mit erfundenen Elementen, fiktiven Dialogen, dramaturgisch passenden Versatzstücken, die, so will mir scheinen, von der Wirklichkeit jedoch nicht weit entfernt sein dürften. Um zum eigentlichen Thema zu kommen, nämlich der Geburtsstunde der jüdischen Untergrundorganisation Nakam, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, gnadenlos Rache zu üben nicht nur an denjenigen, die aktiv an der Massenvernichtung beteiligt waren, sondern gar am gesamten deutschen Volk, das durch sein Stillhalten, sein Schweigen, sein Nichteingreifen das Grauen überhaupt erst ermöglicht hatte, geht der Autor zurück ins Jahr 1943, als die Endlösung bereits beschlossene Sache war und nur eine Frage der Zeit, bis das von den Nazis besetzte Europa 'judenfrei' wäre. Und das tut er völlig zu Recht, denn ohne diese intensiv und schonungslos erzählte Vorgeschichte wäre die Bildung der Nakam kaum nachzuvollziehen. Man muss wissen, was den Protagonisten des Romans, Abba Kovner, Vitka Kempner, Rozka Korczak und Leipke Zinkel, um nur die wichtigsten historischen Personen zu nennen, angetan wurde – ihre Familien fielen samt und sonders der Mordlust der Deutschen zum Opfer -, und was sie selbst im Ghetto der litauischen Hauptstadt Wilna und später, als unerbittliche Partisanen, in den sumpfigen Wäldern von Rudnik, als auch im KZ (Leipke) erlebt und erlitten haben, um, wenn auch nur ansatzweise, ihre Beweggründe, eine so umfassende Rache nehmen zu wollen, verstehen zu können!

Aber auch die nicht direkt mit Abba und seiner Truppe in Verbindung stehenden, aber ungemein wichtigen, stets kurzen, aber zutiefst bestürzenden, tief unter die Haut gehenden Szenen, allesamt historisch belegt, die, immer aus dem Blickwinkel einer fiktiven Person, meist eines jungen Mädchens oder einer jungen Frau, von denen niemand das jeweilige Massaker, das sich anbahnte, überleben würde, immer wieder eingestreut werden, lassen den späteren Rachegedanken der Überlebenden beinahe zu dem eigenen werden.Wann immer der Autor zu diesem erschütternden, den Leser involvierenden, oft genug zum Weinen bringenden Stilmittel greift, ist der Roman am stärksten, denn dann wird die zeitliche, räumliche und emotionale Distanz aufgehoben, einfach ausgehebelt und niedergerissen, dann ist es gar, als wäre man viel mehr als nur ein unbeteiligter Leser und damit irgendwie auch Zuschauer. Man möchte eingreifen, die Mörder stoppen – und selbst zum Mörder werden...

Ja, der Gedanke an Rache, die Gerechtigkeit damit in die eigenen Hände zu nehmen, ist nicht fern! Aber kollektive Rache? Ein Auge für ein Auge, ein Zahn für ein Zahn oder, wie der unversöhnliche Abba Kovner es forderte, ein Leben für ein Leben? Nach Kriegsende denken freilich nicht alle wie er. Die überlebenden Juden hatten andere Sorgen, denn obwohl ihnen von den Nazis nun keine Gefahr mehr drohte, waren sie nach wie vor in ihrer osteuropäischen Heimat unerwünscht und die neuen Besatzer, die Russen, trachteten ihnen sogar nach dem Leben. Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung waren bei ihnen ja seit Jahrhunderten gang und gebe! Also betätigten sich Abba und Vitka zunächst einmal als Fluchthelfer – Palästina, das Gelobte Land der Bibel, war das Ziel! Doch dort Einlass zu finden war das nächste Problem – auch über diese unerfreulichen Aspekte lesen wir in Daniel Wehnhardts Roman, und sie dürften denjenigen, die Leon Uris Mammutwerk 'Exodus' kennen, geläuftig sein!

Während Leipke nach der Befreiung der KZs durch die Alliierten weiterhin interniert war (und dies, so unglaublich es auch klingt, in den selben Baracken, in denen er unter den Nazis täglich in höchster Lebensgefahr schwebte!) und Abba und Vitka noch in Deutschland waren, mit nächstem Ziel Italien, war es Rozka gelungen, direkt nach dem Einmarsch der Russen ins heimische Litauen nach Palästina zu gelangen und hatte es sich dort zur Aufgabe gemacht, Zeugnis zu geben von dem Völkermord – in meinen Augen die einzige Möglichkeit der Verarbeitung des Unaussprechlichen, gleichzeitig eine Mahnung und eine Aufklärung, auf dass sich so etwas nicht wiederholen möge. Es war dies eine Angst, die die allermeisten Überlebenden des Holocaust noch lange mit sich herumtrugen, wenn sie sie denn zu ihren Lebzeiten jemals loswurden, und auch ein Grund, so schnell wie möglich europäischen Boden zu verlassen. Gegen ihren Willen und trotz ihrer Skepsis gelang es dem charismatischen Abba, der schließlich auch in Palästina eintraf, die ehemalige Kampfgefährtin und Geliebte zur aktiven Mitarbeit zu bewegen.

Der Plan stand schon fest, besser die beiden Pläne: Plan A sah vor, das Trinkwasser in Deutschland zu vergiften und Plan B, der dann schließlich auch ausgeführt wurde, die etwa 30000 Kriegsgefangenen im US-amerikanischen Gefangenenlager Nürnberg-Langwasser, allesamt Nazis und SS-Leute, mit arsenversetztem Brot zu vergiften. Ein Segen, dass, durch massive Intervention hochrangiger Israelis und der Inhaftierung Abbas, weder der eine noch der andere – bei aller Sympathie mit Kovner und seinen Getreuen - teuflische Plan glückte! Keinem wäre gedient gewesen, wäre es anders gekommen. Die Juden hätten sich auf die gleiche Stufe gestellt wie ihre Peiniger, ihre Toten wären nicht wieder lebendig geworden – und einen israelischen Staat würde es, so kann man annehmen, bis heute nicht geben. So aber, und da lassen wir am Ende des Romans, das im Jahre 2003 spielt, der inzwischen über 80jährigen Vitka Kempner, die ihren Mann Abba um 25 Jahre überlebte und der Israel zur Heimat geworden war, das Wort, ... denn 'welche größere Rache an Nazi-Deutschland könnte es geben als einen eigenen jüdischen Staat?'. Und sie endet mit den versöhnenden Worten: 'Und ich bin sicher: Das würden auch unsere Familien so sehen.'