Rezension

Historisch interessant, packend und berührend

Die Stimmlosen - Melanie Metzenthin

Die Stimmlosen
von Melanie Metzenthin

Bewertet mit 4 Sternen

„Historisch interessant, packend und berührend, zugleich trotz der Dramatik der beschriebenen Jahre immer wieder erfrischend und hoffnungsfroh stimmend“, schrieb ich über das mit über 40.000 verkauften Exemplaren erfolgreiche Buch „Im Lautlosen“ (2017) von Melanie Metzenthin (49), bekannt als Autorin einiger im Mittelalter spielender Romane und Ärztin in Hamburg. Diesen Satz wiederhole ich auch gern für den jetzt im Juli ebenfalls im Amazon-Verlag Tinte & Feder erschienenen zweiten Band „Die Stimmlosen“.

Hatte Metzenthin im ersten Band das Leben des jungen Arztehepaares Richard und Paula Hellmer in Hamburg während der Nazi-Diktatur lebensnah und anschaulich geschildert, beschreibt sie nun deren Alltagsleben in den ersten Nachkriegsjahren. Der Krieg ist vorbei, die Hansestadt liegt in Trümmern. Leben andere mangels Wohnraum auf der Straße, geht es Richard und Paula noch gut: Mit der Großfamilie und Freund Fritz bewohnen sie zu elft die sechs Zimmer des unzerstört gebliebenen Elternhauses. Lebensmittel gibt es nur auf Bezugsschein, doch die Läden bleiben oft leer. Im Kältewinter 1946/1947 fehlt es an warmer Kleidung, so dass viele Menschen in ihren Notunterkünften oder direkt auf der Straße erfrieren. Aber es fallen keine Bomben mehr und die Nazi-Herrschaft ist vorbei. So kann es eigentlich nur besser werden – hoffen Richard und Paula.

Doch Richard, der im Dritten Reich als Psychiater immer wieder gegen das Regime gearbeitet und damit sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um behinderte Menschen vor dem angeordneten Vernichtungstod zu retten, muss erschreckend feststellen, dass die alten Nazi-Seilschaften unter Juristen und Ärzten sich trotz britischer Besetzung nahtlos in die neuen Machtstrukturen eingegliedert haben. In einem Prozess gegen seinen früheren Chefarzt Krüger, der während des Nazi-Regimes leicht behinderte Kinder hat sterilisieren und 22 stark behinderte als „unwertes Leben“ bewusst in den Tod geschickt hatte, sagt Richard, der solche Kinder durch gefälschte Atteste hatte retten wollen, jetzt als Zeuge der Anklage aus, sieht sich aber unerwartet zur eigenen Rechtfertigung gezwungen.

Wie schon im ersten Band zeichnet Metzenthin auch in „Die Stimmlosen“ – gemeint sind die Rechtschaffenen und unter den Nazis Entrechteten, die auch in der Nachkriegszeit kein Stimmrecht haben – ein anhand historischer Ereignisse, Dokumentationen und Augenzeugenberichten sachlich korrekt recherchiertes, dennoch locker geschriebenes, dadurch auch für Nachgeborene leicht verständliches Nachkriegsporträt über Menschlichkeit, Versöhnung und Nächstenliebe, über das alltägliche Leben in Trümmern, über die Alltagssorgen unserer Eltern und Großeltern – bis zum Einsetzen des Wirtschaftswunders in den 1950er Jahren. In Sprache und lebendigen Dialogen trifft Metzenthin den richtigen Ton, der ihre Geschichte so authentisch erscheinen lässt.

Etwas zu langatmig und melodramatisch wirken nur die langen Passagen um die tot geglaubte, dann doch nach 30 Jahren unerwartet wieder auftretenden britischen Mutter von Richards Freund Fritz. Diese Mutter scheint eher als dramaturgisches Mittel eingefügt zu sein, lässt deshalb die sonst durch Wirklichkeitsnähe überzeugende Handlung in diesem Punkt etwas märchenhaft erscheinen. Die Autorin hätte besser getan, darauf zu verzichten.

Dennoch ist der Roman „Die Stimmlosen“ absolut lesenswert und für die heutige Generation der Enkel zu empfehlen: Es wird der normale Alltag der Nachkriegsjahre in seinen oft scheinbar unwichtigen, zu jener Zeit aber lebensbestimmenden Kleinigkeiten beschrieben, wie es kein Schulunterricht zu vermitteln vermag. Auch die Schilderung alter Nazi-Seilschaften in der Nachkriegszeit vor 70 Jahren ist beachtenswert, hat sich doch Vergleichbares nur 40 Jahre später, also zu unserer Zeit, nach Zusammenbruch der DDR im Fall der Stasi-Seilschaften wiederholt.