Rezension

Klassische Menschenstudien

Anna Karenina - Leo N. Tolstoi

Anna Karenina
von Leo N. Tolstoi

Bewertet mit 4 Sternen

„Schließlich wurde ihre Aufmerksamkeit abgelenkt von dem Schneetreiben gegen das linke Fenster und von den vielen Flocken, die an der Scheibe hängen blieben, von dem warm eingemummten und einseitig mit Schnee bedeckten Schaffner, der im Gang vorüber ging, und von den Meinungen, die im Abteil über den draußen herrschenden Schneesturm geäußert wurden. Aber es blieb immer das Gleiche: das Geklapper des Wagens, der Schnee am Fenster, der gleiche schnelle Wechsel zwischen Hitze, Kälte und wiederum Hitze im Abteil.“

So lernen wir Anna Karenina kennen – im Buch und im Film. Wobei ich gestehen muss, dass der Film bei weitem nicht die Vielfalt des Buches erreichen kann!

Während Anna ihre unglückliche Schwägerin Dolly überredet, ihrem untreuen Ehemann zu verzeihen, verliebt sie sich selbst außerehelich. Ein Drama beginnt und macht aus der ehemals freundlichen Frau und Mutter einen zerbrochenen Menschen …

Obwohl Anna Karenina titelgebend war, ist sie nicht die einzige Person, die Tolstoi in seinem umfangreichen Roman beleuchtet. Auch andere Zeitgenossen hat er akribisch genau charakterisiert. Es gelingt ihm, die unterschiedlichsten Gedankengänge seiner Figuren zu verfolgen und durch seine Naturbeschreibungen lässt er Bilder im Kopf seiner Leser entstehen, die jedem Film überlegen sind. Sein Roman strotzt nur so von Glück und Unglück, von Freude und Leid, von Gesundheit und Krankheit, vom Lebensbeginn und vom Lebensende. Und obwohl das Buch vor über einhundert Jahren erschien, kann man sehr genau sehen, dass der Mensch an sich gleich geblieben ist. Vielleicht haben sich diverse Lebensumstände verändert, wird den Frauen mehr Selbstständigkeit zugestanden, ist der Unterschied zwischen den einzelnen Gesellschaftsschichten geringer geworden – aber die Sorgen und Nöte sind noch immer fast gleich: wie finde ich eine Stellung, mit der ich die Familie ernähren kann? Wird mein Kind gesund zur Welt kommen? Ist mein Partner treu? Tut Müßiggang gut? Was ist der Sinn des Lebens?

Wer dieses Buch liest, bekommt den Eindruck, dass Tolstoi die Menschen sehr genau studiert hat. Manchmal übertreibt er die Beobachtungen etwas und so entstehen – zumindest für unseren heutigen Geschmack – auch einige Längen. Doch wenn man die abzieht, lohnt sich die Lektüre auch heute noch!