Rezension

Mehr Orient geht nicht!

Der Architekt des Sultans - Elif Shafak

Der Architekt des Sultans
von Elif Shafak

Bewertet mit 4.5 Sternen

Türkische Autoren und Autorinnen interessieren mich besonders, so auch die bekannte, noch junge Autorin Elif Shafak. Dies ist mein zweites Buch von ihr und ich habe den Eindruck, die Autorin erfindet sich immer wieder neu. Diesmal hat sie, wie der Verlag ausweist, einen historischen Roman auf den Markt gebracht; es ist aber keiner! Sondern ein orientalisches Märchen, das sich (jedoch) an historische Tatsachen anlehnt, diese auch, wenn es zum Roman paßt, umdeutet und umdatiert.

Ganz im Stil eines Märchens wird der Leser in das Osmanische Reich des 16. Jahrhunderts versetzt, er landet im Herzen Istanbuls, im Sultanspalast. Eine kurze Stippvisite geht auch nach Rom, in die Ewige Stadt, man begegnet Michel Angelo, eine Begegnung, die eher ein Gag ist, weil ohne Auswirkungen für den Roman und wirft einen Blick auf den Bau des Petersdoms; einige kriegerische „Ausflüge“ führen in entsetzliches Schlachtgetümmel. Ansonsten bleibt man, wie Jahan, auf den Sultanspalast und ein Quäntchen Istanbul beschränkt.

Der Held der Geschichte, Jahan, Elefantenführer und Protegé des Hof-Architekten Sinan (Englischer Titel:  The Architect’s Apprentice) und sein weißer Elefant Chota durchleben mehr als 40 Jahre osmanischer Geschichte, nämlich die unumschränkte Herrschaft und Herrsucht dreier aufeinander folgender Sultane. Dabei erleben und gestalten sie die Erbauung wichtiger Prunkbauwerke, meist Moscheen und Aquädukte, politische und persönliche Intrigen, eine zarte, unglückliche Liebe, Kriege, Brandkatastrophen. Das ganze späte Mittelalter des Reiches tut sich vor einem auf, man schmeckt den Blütenduft, die Parfüms des Harems, begegnet der Exotik der sultanischen Menagerie, leidet verborgene Träume mit und erliegt dem Aberglauben der Zeit, ihrem Zauber, ihrem Reichtum, ihrer Erbärmlichkeit, ihrer Grausamkeit, ihrer Willkür.

So weit. So gut.

Was man von diesem Roman keineswegs erwarten darf, ist ein tiefes Eindringen in die Zusammenhänge der türkischen Geschichte. Warum wurde dieser Krieg geführt? Warum jener? Was hatte er jeweils für Resultate? Wie war die Politik des Reiches? Der Leser weiß nie mehr als der Architektenlehrling selbst, und dieser, als „kleiner Mann“, wusste beinahe nichts. Was man ebenfalls nicht erwarten darf, sind moralische Wertungen oder Interpretationen, Erklärungen, Aussagen über die osmanische Mentalität oder die Anbindung an die Jetztzeit.

Elif Shafak bleibt dem Märchencharakter ihres Buchs treu. Die Autorin hat auf circa 600 Seiten eine vergangene Epoche nachgestellt, eine runde Erzählung von ehemaliger Größe und Grausamkeit des Kalifats; sie erzählt in angenehmer, musischer Sprache, Prinzessinnen und Juwelen, Piraten und Schlachtfeld, da ist alles drin. Aber mehr als eine bloße Nachstellung ist es nicht.

Fazit: Ein Bild des Orients vergangener Tage, mehr Orientfeeling geht eigentlich nicht, jedoch ohne Nachhaltigkeit und Deutungen für die Jetztzeit. Märchenliebhaber werden voll auf ihre Kosten kommen. Wer mehr will, muss etwas anderes lesen.

Kategorie: Märchen/Legende
Verlag: Kein & Aber, 2015