Rezension

Science-Fiction? Dystopie? Ein wenig hiervon, ein wenig davon, aber nicht überzeugend.

Das Testament der Jessie Lamb - Jane Rogers

Das Testament der Jessie Lamb
von Jane Rogers

Bewertet mit 2 Sternen

Was würdest du tun, um die Menschheit zu retten? Diese Frage stellt der Klappentext, diese Frage stellt sich auch die Protagonistin des mit dem Arthur C. Clark Award ausgezeichneten Romans »Das Testament der Jessie Lamb«, geschrieben von Jane Rogers und bei uns in Deutschland im Heyne Verlag erschienen. Der Klappentext klang höchstinteressant...

Die Existenz der Menschheit ist bedroht!

Jessie Lamb ist junge 16 Jahre alt, als die Menschheit unversehens einer unbeschreiblichen Katastrophe gegenübersteht: woher das sogenannte Muttertod-Syndrom stammt, weiß niemand. Man munkelt, Terroristen stecken hinter diesem gefährlichen Virus, der werdenden Müttern und ihren ungeborenen Kindern noch während ihrer Schwangerschaft zum Verhängnis wird. Frauen über 16 Jahren sterben einen qualvollen Tod, es werden keine Kinder mehr geboren. Was dies für den Fortbestand der Menschheit bedeutet – jeder einzelne trägt dieses Virus in sich – wird Jessie in all seiner Grausamkeit vor Augen geführt, als auch Familienmitglieder und Freunde an dieser grausamen Krankheit dahin siechen. Jessie fast einen folgenschweren Entschluss, um selbst etwas zum Fortbestand der Menschheit beitragen zu können…

Deutsches Cover, was willst du mir sagen?

Werfen wir zunächst einen Blick auf das Buchcover. Das Gesicht einer jungen Frau, bis auf ihre blauen Augen und ihre Lippen beinahe bis ins Schwarz/Weiß desaturiert, blickt mir unter einem Leuchtschriftzug entgegen. Ich habe mich (nach dem Lesen des Buches) ernsthaft gefragt, wer diese Frau nun sein soll. Die Protagonistin jedenfalls nicht – denn die Augenfarbe passt nicht. Soll es eine der “schlafenden Schönen” sein? Nein – denn die haben ihre Augen wohl kaum offen.

Im Gegensatz zum sehr stimmigen englischen Original wurde der Titel in Druckbuchstaben verfasst. Warum? Jessie Lamb schreibt ihr Testament in der Geschichte mit der Hand. Ich muss mich an dieser Stelle ernsthaft fragen, was genau die Designer des deutschen Covers eigentlich mit ihrem Werk ausdrücken wollten, denn einen Bezug zur Story gibt es schlichtweg nicht. Hier hatte derCanongate Books Verlag des englischen Originals eindeutig das bessere Händchen.

Science Fiction? Dystopie?

Arthur C. Clark – jedem Leser von Science Fiction-Literatur dürfte der Name dieses mehrfach ausgezeichneten Schriftstellers hinreichend bekannt sein. Ein Buch, das mit dem nach diesem Visionär benannten und gegründeten Literaturpreis ausgezeichnet wird, muss schon einen besonderen Stellenwert innerhalb dieses facettenreichen Genres haben. Zumindest sollte es so sein – und vor allem sollte es auch in unmittelbarer Nähe eben jener Science Fiction angesiedelt sein. Ich möchte den Juroren dieses Preises nun keinesfalls zu nahe treten, denn sie werden schon wissen, warum sie ihre Preise verleihen; aber wenn eine Geschichte nur marginal am Genre-Tellerrand kratzt und man das “Science” mit einem Elektronenmikroskop suchen muss, ist die Entscheidung doch zumindest mit einem deutlichen Fragezeichen über dem Kopf hinzunehmen. Jane Rogers schaffte es mit »Das Testament der Jessie Lamb« übrigens auch auf die Longlist des Man Booker Prize 2011.

Gänzlich anders als erwartet, erweist sich der neue Roman der mehrfach ausgezeichneten Autorin als eine Art Tagebuch. Soweit, so gut. Ich hatte schon öfter mit Büchern zu tun, die erstens in der von mir früher nicht ganz so beliebten Ich-Perspektive verfasst wurden und zweitens fernab des typischen Einheitsbreis dystopischer Zukunftsvisionen anzusiedeln sind. Doch das, was sich hinter den 384 Seiten verbirgt, verwirrte eher, als dass es unterhielt. Nun mag es der Jugendhaftigkeit der Protagonistin geschuldet sein, dass unter all den – zweifellos sehr durchdachten – Gedankengängen wirre Sprünge stattfinden, aber trotz einer leichten Wandlung zum Ende des Buches hin vermisst man oft die kraftvollen, ruhigen Passagen. Es gibt keine epischen Momente, keine Wendungen in der Geschichte. Alles – wirklich alles – ist leicht vorhersehbar und vollkommen linear.

Ich bin kein Kind mehr. Wenn ich in die Einzelheiten gehe und zu planen anfange, macht sich ein hartnäckiger Widerstand bemerkbar. [...] Ich möchte, dass er versteht, was ich tue, und es akzeptiert. – Seite 111

Der Dystopie-Faktor reduziert sich letztendlich auch nur auf die MTS-Krankheit (Muttertod-Syndrom) und die theoretische Möglichkeit des Menschheitsendes, schafft es jedoch nicht, mich tatsächlich in den Bann zu ziehen, denn bis auf den interessanten Storyansatz passiert recht wenig. Darüber hinaus schürt der Klappentext Erwartungen, welche in der Geschichte selbst in keinster Weise zutreffen. Jessie Lamb ist nicht die Einzige (auch nicht scheinbar), die die Menschheit vor dem Aussterben bewahren kann. Die Buchbeschreibung ist in dieser Beziehung ehrlicher. Ich empfehle eine Leseprobe, um Missverständnissen vorzubeugen.

Mehr als einmal nimmt sich die Story selbst den Wind aus den Segeln, weil sie stetig vor Augen führt, welche zahlreichen Alternativen es im Grunde noch gibt und auf welch dünnem Eis Jessies “folgenschwere Entscheidung” eigentlich fußt. Und eben dies ist auch das generelle Problem der Geschichte: Das Fehlen jedweder Vernunft bis hin zur Unlogik, die einem mit dem Kopf schütteln lässt. Das stete Springen an sinnlose Nebenschauplätze (welche tatsächliche Storyrelevanz hatte bitteschön dieses ständige Betrachten dieser Tierschutzorganisation?) sowie die komplett aufgesetzte Sexszene, die offenbar zum reinen Selbstzweck stattfand – denn sie führte weder zu einer dramatisch anders gelagerten Situation, noch kratzte sie an der Haupthandlung.

Interessante Ansätze

Was sich mit dem Klappentext bereits angedeutet – ein Virus bedroht die Menschheit und die Wissenschaft versucht verzweifelt, der Lage Herr zu werden – spielt sich im Laufe der Kapitel mehr oder minder imHintergrund ab und unterscheidet sich von anderen Zukunftsszenarien allein dadurch, dass die eigentliche Katastrophe gerade im Entstehen ist, während in den meisten von mir gelesenen Büchern die Menschheit bereits mit den Auswirkungen zu kämpfen hat und sich im Wiederaufbau befindet. Die Idee, an eben jenem Moment anzusetzen ist interessant und auch nicht allzu weit hergeholt, zumal der Zeitrahmen in (sehr) naher Zukunft angesiedelt wurde.

MTS war erst ein Riss, aber jetzt bricht die ganze Welt in Stücke. – Seite 143

Die Handlung wird in zwei Erzählstränge aufgeteilt, wobei sich der Großteil in der Vergangenheit abspielt. Der Prolog startet in der Gegenwart, Jessie wird gefangen gehalten und greift zu Notizbuch und Stift, um ihre Story niederzuschreiben, um ihr Vermächtnis zu Papier zu bringen. Wir blicken zurück auf ihr Leben im England der nahen Zukunft und verfolgen ihren Weg bis hin zu dem Moment ihrer Entscheidung, wo schließlich beide Stränge zusammenlaufen. Das ist konzeptionell interessant und durchaus spannend, wird aber durch ein viel zu frühes Offenbaren der Person, welche Jessie gefangen genommen hat, zu einem langweiligen Nebenschauplatz degradiert. Im Nachhinein betrachtet führt dieser Erzählstrang sich sogar selbst ad absurdum, weil er zum einen die logisch schwächste Stelle des ganzen Buches beinhaltet und zum anderen keinerlei Auswirkungen auf die Kerngeschichte hat.

Die Story wollte und wollte nicht zünden, löste auch keine Gefühlsregungen in mir aus. Nach etwa der Hälfte klappte ich das Buch zu, lehnte ich mich kopfschüttelnd in meinem Lesesessel zurück und fragte mich, warum immer und immer wieder dieselben Diskussionen geführt wurden, warum sich die junge Dame nicht weiter entwickelte und wann die Spannungskurve endlich an Fahrt gewinnen würde. Es wurde zunehmend mühsamer, sich durch die Seiten zu kämpfen und nach dem gewissen Kick zu suchen. Dabei ist der Grundgedanke, dass ein einzelner Mensch mehr bewirken kann als er sich vorstellen kann, logisch und nachvollziehbar. Würde sich jeder der Verantwortung entziehen, dem großen Ganzen einen Dienst zu erweisen, würden wir vor dem unausweichlichen Untergang stehen. Soweit ist das ja alles auch ganz hübsch. Doch handelt Jessie wirklich aus diesen uneigennützigen Beweggründen heraus oder flüchtet sie nur wie alle anderen auch? Das wird einem nie so recht klar – obwohl es das eigentlich sollte bei einem Buch aus der Ich-Perspektive – und wenn man die Motivation der Protagonistin anzweifelt, fällt alles andere in sich zusammen wie ein Kartenhaus im Wind. Ihre Gedanken und Handlungen laufen irgendwann auseinander, was zu einer spannenden Grundlage hätte führen können. Leider vertut die Autorin diese Chance, indem sie ihre Hauptfigur durch Deus-Ex-Machina-Wendungen in ausweglose Situationen zwingt.

Vielleicht sollte ich gar nicht kämpfen und mich wehren, sondern jeden Schritt so annehmen, wie er sich ergibt, und darauf vertrauen, dass er mich weiterbringt. – Seite 112

Dabei ist die unheldenhafte Tendenz der Jessie Lamb nicht einmal das Problem gewesen. Ich schreibe bewusst “unheldenhaft”, weil ich es so empfunden habe. Natürlich hatte ich gehofft, dass sie eine tragende Rolle zur Rettung der Menschheit inne hält, beispielsweise Immunität gegenüber dem MTS-Virus. Irgendetwas, dass sie vom Rest der Welt unterscheidet, ein Hoffnungsschimmer am Horizont, ein Licht am Ende des Tunnels – wenigstens eine verborgene Heldin, welche in ihre Rolle hineinwächst. Doch nichts davon ist der Fall, und so gleitet die Protagonistin in die Beliebigkeit hinein. Sie ist austauschbar – ein Jedermann mit pseudointellektuellen Gedankensprüngen, welche tatsächlich die einzige Stärke dieses Buches darstellen.

Nüchtern, emotionslos, nachdenklich

Getragen von einem geradezu trockenen Schreibstil, der mich an wahllos aneinandergereihte Cutscenes erinnert, beleuchtet Jane Rogers die eigentlich furchtbare Zukunftsperspektive anhand Jessies näherem Umfeld. Man erschafft aber keine düstere Atmosphäre, Anspannung oder erzeugt irgendeine Form von Bedrohung, wenn man den gnadenlos zusammengeschrumpften Blickwinkeln der Protagonistin folgen muss, während diese die eigentliche Bedrohlichkeit zum größten Teil durch den Fernseher(!) wahrnimmt. Das ist sicherlich realistisch, weil Jessie eben keine echte Heldin ist – aber will man sowas lesen? Die Autorin versucht auch, ihre Protagonistin durch vereinzelte Situationen mit der sich verändernden Gesellschaft zu konfrontieren. So wird Jessie in einem Kapitel überfallen – das passiert natürlich nur in einer MTS-gebeutelten Welt. Desweiteren wird einem weis gemacht, dass Homosexualität ein quasi-Ausweg für viele Männer darstellt. Frau Rogers, Sie können den biologischen Imperativ eines ganzen Geschlechts nicht einfach ausknipsen, nur weil es ihrer Geschichte dienlich ist. Auf der anderen Seite findet auch eine Vergewaltigung statt – ja was denn nun?

Alle, die jetzt leben, können aus ihrem Leben das Beste machen. Alle Ungeborenen wissen nicht, dass ihnen etwas entgeht. Vielleicht kommt ja nach uns etwas Besseres. – Seite 214

Familienmitglieder, Freunde aus der Schule, Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung erkranken – sterben, doch Jessie nimmt dies meines Eindrucks nach recht emotionslos wahr. Überhaupt wirkte ihre Figur bis zum Schluss gefühlskalt auf mich, ihre Motivation ist mir selbst jetzt nach Beenden des Buches nicht wirklich klar geworden. Dies ist sowohl dem Schreibstil geschuldet als auch der zu oberflächlichen Charakterzeichung. Jessie Lamb möchte verstanden werden, doch meine Zweifel wuchsen, ob sie dies mit ihrem sturen Verhalten durchzusetzen vermochte. Einzig ihre Stärke und letztendlich ihr ungebrochener Willen, sich durch nichts und niemanden beeinflussen zu lassen, imponierten mir. Einige nachdenkliche Passagen, in der die Protagonistin ihre Erlebnisse hin und wieder reflektieren darf, stellen die eigentliche Stärke des Buches dar. Das offene Ende lässt leider nur zwei Möglichkeiten zu, so dass man sich auch hier nicht den Kopf übermäßig zerbrechen wird.

Mein (ausführliches) Fazit: Die Idee eines die Menschheit bedrohenden Virus ist nicht neu. So bleibt dem Ansatz dieser Geschichte eigentlich nur die spezielle “Schwangere sind betroffen”-Note. Jane Rogers hat eine Geschichte um eine Geschichte gewoben, welche sie eigentlich hätte erzählen sollen. Durch den stark eingeschränkten Blickwinkel der Protagonistin kann der Leser die Bedrohung kaum wahrnehmen, weswegen es ständig an Dramatik fehlt. Alles fließt linear von Anfang bis Ende – alternative Lösungswege gibt es zwar, doch sind diese abstrakt und nehmen der Bedrohung sämtliche Intensität. Mir bringt es als Leser nichts, wenn die immer gleichen Diskussionen am Kern des Themas vorbeiführen und erst dann Klartext geredet wird, wenn das Ende längst fest steht – was bereits nach der Hälfte des Buches der Fall ist.

Wendungen gibt es nicht – darüberhinaus trieft der Plot vor jugendlicher Naivität, die mit solcher schon fast nicht mehr zu erklären ist. Das geht so weit, dass man gegen Ende des Buches mehrmals mit dem Kopf schütteln muss und das Logikverständnis der Autorin anzweifelt. Seine Stärken bezieht das Buch aus vereinzelt auftretenden Kommentaren und Ansichten, welche auf dem Niveau einer Abiturientenklasse vor sich hin köcheln. Der Dystopie-Faktor ist nur rudimentär vorhanden und einen Science-Fiction-Aspekt gibt es meines Erachtens überhaupt nicht. Das deutsche Cover verfehlt das Thema völlig und der Klappentext informiert darüber hinaus auch noch falsch.