Rezension

Unpräzise, überschätzt

Sechs Koffer - Maxim Biller

Sechs Koffer
von Maxim Biller

Bewertet mit 2 Sternen

Der Vater des damals 6-jährigen Icherzählers arbeitet in den 60ern in Prag als Übersetzer vom Tschechischen ins Russische. Als Onkel Dima, ein Bruder des Vaters, aus der Haft entlassen wird, beginnt der junge Erzähler der Frage nachzuforschen, wer aus der Familie die Schwarzmarktgeschäfte des Großvaters in Moskau verraten hat und damit Schuld an der Hinrichtung des „Tate“ ist. Die beiden älteren Brüder des Vaters leben bereits in Berlin und Brasilien. Die Familienbeziehungen sind sichtlich kompliziert; denn der übersetzende Vater wollte ursprünglich mit Natalia in den Westen fliehen, die nun mit Dima verheiratet ist. Seine Frau Rada wird über die Rolle der Zweitliebsten alles andere als entzückt sein. Mit 15 Jahren besucht der Erzähler seinen Onkel in der Schweiz und stößt beim Herumschnüffeln auf dessen Polizei-Akte. Zwischen dem, was er als Kind in der Familie mit anhörte, was man ihm erzählte und den Geschehnissen klafft offenbar ein gewaltiger Graben.

Der Versuch der Auflösung eines Familiengeheimnisses könnte sich wie ein Krimi lesen, wenn ich mich als Leser auf die Präzision des Autors (nicht der Erzählerstimme) verlassen könnte. Die Interpretation eines Kindes oder Jugendlichen darf im Roman gerne Irrwege gehen; denn auch Irrtümer geben Einblick in die Persönlichkeit. Neben der mangelnden Präzision Billers (zwischen „die Brüder“ und „seine Brüder“ besteht z. B. ein Unterschied) fehlt mir hier der Einblick in die Innenwelt der Figuren. „Sechs Koffer“ hat bei mir  die leicht wehmütige Erinnerung an Akos Domas „Der Weg der Wünsche“ ausgelöst, den ich für erheblich besser halte. In Domas Roman flüchtet eine Familie aus der Tschechoslowakei in den Westen und der Autor vermittelt tiefe Einblicke in mehrere seiner Figuren, bis zurück zu deren Herkunftsfamilien. Biller stellt seine Figuren als kaltschnäuzig, berechnend, gehässig, durch und durch negativ bloß. Romane sollten keine neuen Juden-Klischees verbreiten, es gibt bereits genug. Ich bin definitiv nicht Billers Zielgruppe und halte diesen Roman sprachlich und inhaltlich für überschätzt.