Rezension

Von der Vergangenheit eingeholt

Der Geiger - Mechtild Borrmann

Der Geiger
von Mechtild Borrmann

Bewertet mit 3.5 Sternen

Alexander Ossipowitsch Grenko hat so ziemlich alles erlebt - er ist wegen mangelnder Intelligenz in die Sonderschule geschickt worden, landete nach dem Tod seiner Eltern im Heim, bald darauf im Knast. Weil in Deutschland kein Vatersname nach dem Vornamen benötigt wird, ist aus dem jungen Mann inzwischen Sascha Grenko geworden, Mitarbeiter eines Kölner Personenschutz-Unternehmens, das beste Kontakte zu Informanten in den verschiedensten Ländern unterhält. Ein Anruf, den Sascha für geschäftlich hält, entpuppt sich als privat. "Sascha, ich bin in Schwierigkeiten. Es geht um unsere Vergangenheit, und ich brauche deine Hilfe." Nach fast 20 Jahren hört Sascha zum ersten Mal wieder die Stimme seiner Schwester Viktoria. Die Geschwister waren kurz nach der Übersiedlung der Familie aus Kasachstan und dem plötzlichen Tod ihrer Eltern voneinander getrennt worden. Seither hatte Sascha gehofft, Viktoria hätte es gut getroffen, aber nicht gewagt, seine Hoffnung zu überprüfen.

In zwei weiteren Erzählsträngen führt Mechtild Borrmann ihre Leser nach Russland, wo 1948 Saschas Großvater Ilja, ein berühmter Geiger, wegen seiner Auslandskontakte verhaftet und in ein Arbeitslager deportiert wird. Seit diesem Tag ist Grenkos Stradivari verschwunden, die sein Vorfahr als Geschenk des Zaren erhalten hatte. Auch Grenkos Frau Galina und die beiden kleinen Söhne werden als Angehörige eines Häftlings für ein Jahrzehnt nach Karaganda in Kasachstan deportiert. Galina schlägt sich dort, wo der Winter in manchen Jahren schon im September beginnt, mit schwerster Arbeit durch. Sie glaubt der Auskunft der Behörden, ihr Mann habe sich ins Ausland abgesetzt. Die Umsiedlung nach einigen Jahren ins mildere Klima Almatys empfindet sie bereits als Erleichterung ihrer Lebensbedinungen. Der Anlass, warum sich in der Gegenwart in Deutschland Viktoria um Hilfe an ihren Bruder wandte, verwickelt Sascha in eine lebensgefährliche Schnitzeljagd durch Deutschland und Russland. Sascha hat zwischen dem Tod seiner Eltern, dem seines Onkels in Kasachstan und der Lagerhaft des Großvaters eine Verbindung hergestellt und ist nun mit dem einzigen Beweismittel für diesen Zusammenhang auf der Jagd nach der Person, die Ilja Grenko vor 60 Jahren um seine kostbare Stradivari betrogen hat. Sascha als Nachkomme des Musikers steht nach deutschem Rechtsempfinden das seltene Instrument zu.

Aus der Vergangenheit berichtet Mechtild Borrmann eindringlich und schnörkellos. Die Erlebnisse des Ehepaars Grenko in der Verbannung während der Stalin-Dikatatur wirken durch Parallelen zu Berichten von Zeitzeugen, die damals in Kasachstan lebten, sehr glaubwürdig und sind spannend zu lesen. Die Jagd nach der Stradivari als Handlungsstrang der Gegenwart fällt dagegen sehr schmal aus und wirkt auf mich weniger rund als die Vorgeschichte Iljas und Galinas. Ein gelungener historischer Krimi für Leser mit Interesse an der Stalin-Ära oder dem Schauplatz Kasachstan.