Rezension

Wenn einem Freundschaft Flügel verleiht

Nur wer fällt, lernt fliegen - Anna Gavalda

Nur wer fällt, lernt fliegen
von Anna Gavalda

Was kann ein Mädchen schon vom Leben erwarten, dessen Mutter ihm erst den Namen Billie nach Billie Jean von Michael Jackson verpasst und es dann, noch ein Baby, sitzen lässt, weil es ihr so auf den Wecker geht? Was kann ein Mädchen schon vom Leben erwarten, das um seine Mahlzeiten kämpfen muss und irgendwie immer darauf wartet, geschlagen zu werden? Das keine Freunde hat? Das nicht gerade intelligent ist und in der Schule eine ziemliche Niete?

Wenn ich einmal sterbe, wird keine Spur von mir bleiben. Außer Franck hat ja kein Mensch mein Licht gesehen, und wenn er vor mir stirbt, ist es vorbei. Dann erlösche ich auch. (S. 92)

Vor allem erwartet es wohl nicht, mit fünfzehn Jahren die Liebe seines Lebens kennenzulernen. Franck Mueller, einsamer Wolf, Außenseiter wie sie, aber zurückhaltender, reichere, aber ebenso gestörte Familie, schwul. Ihre Geschichte beginnt während der Osterferien, als sie gemeinsam für ein Theaterstück proben und sich dabei mehr über sich anvertrauen, als sie vorher für möglich gehalten hätten. Sie brauchen einander, auch dann, wenn sie nicht sprechen. Sie gehören zusammen, auch dann, wenn sie sich verlieren.

Wir wussten, dass das zwischen uns nicht Verachtung oder Gleichgültigkeit war, sondern Vorsicht und dass wir, auch wenn wir es einander nicht mehr zeigen konnten, immer noch Freunde waren. (S. 81)

Billie ist ein einfaches Mädchen, das eine Menge mitnehmen muss, und nur wenig davon hat etwas mit echtem Glück zu tun. Ihre Geschichte erzählt sie in einer kühlen Sommernacht einem einsamen Stern am Himmel, während sie mit dem ins Koma gefallenen Franck in einer Felsspalte hockte, beide mit gebrochenen Knochen, ohne Vorräte, ohne dass Hilfe naht. Der Stern hört ihr zu. Geduldig. Und weil Billie eben Billie ist, erzählt sie ihr Leben in einem ziemlich umgangssprachlichen Ton, der aber immer zu ihr passt und der sich in den leisen Momenten in sehr warmen, einfühlsamen Beschreibungen auflöst. Man könnte meinen, die Autorin rührt hier ein bisschen viel Klischee zusammen mit alkoholkranker Stiefmutter und Wohnwagenleben, mit versteckter Gewalt und Sehnsucht nach Liebe, mit Franck und dessen Verschwörungstheoretiker-Vater, die niemals einen schwulen Sohn akzeptieren würde. Mit Prostitution. Mit Jagdgewehr. Mit der Sehnsucht nach Paris. Und vielleicht tut sie das auch, doch die gesunde Prise Ironie, der stets präsente Humor lassen den Roman nie zu einem schweren Sozialdrama werden.

Meine Worte richteten sich nicht an ihn, sondern an mich. An meine Dummheit. Meine Schmach. Meine mangelnde Vorstellungskraft. Niemals würde er mich im Stich lassen, und wenn er jetzt schwieg, dann allein deshalb, weil er nicht mehr bei Bewusstsein war. (S. 13)

Am Anfang braucht man etwas, um sich an den schnoddrigen Sprachstil zu gewöhnen, doch dann entwickelt sich das Buch zu so einem, das man in wenigen Stunden am Stück verschlingt, einfach weil es irgendwie authentisch ist und schön, weil es einen mitnimmt und weil Anna Gavalda auch hier wieder zeigt, was ihr am meisten liegt: In wenigen Sätzen und ganz unaufdringlich vielschichtige Figuren zu zeichnen. Die richtigen Worte für die ganz zarten, bedeutenden Momente zu finden. So zeigt dieser kleine Romane eine besondere Freundschaftsgeschichte. Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte. Sie lernen sich kennen. Sie können nicht wirklich zueinander kommen. Sie verlieren sich. Sie kämpfen füreinander. Sie suchen ihren Weg. Vielleicht gibt es ein Happy End. Vielleicht auch nicht. Manchmal verläuft alles ein bisschen holprig. Aber immer ehrlich. Und deshalb ist Nur wer fällt, lernt fliegen ein sehr schönes Buch für einen verregneten Sonntagvormittag im Bett oder für einen Sommerferientag im Garten. Es hüllt einen ein und hält einen fest. Wie ein guter Freund.