Rezension

Zwischen weiblicher und männlicher Rolle

Die Wunder von Little No Horse - Louise Erdrich

Die Wunder von Little No Horse
von Louise Erdrich

Bewertet mit 4.5 Sternen

Der Roman-Zyklus

Liebeszauber (1984), Die Rübenkönigin (1986), Spuren (1988), Der Bingo-Palast (1994), Geschichten von brennender Liebe (1996), Die Wunder von Little No Horse (2001), Four Souls (2004, noch nicht übersetzt), Der Klang der Trommel (2005).

"Die Wunder von Little No Horse" ist in der Reihenfolge des Erscheinens der 6. Von 8 Romanen, verschiedene Quellen geben allerdings  unterschiedliche Leseempfehlungen für die Reihenfolge. Die Webseite Fembio empfiehlt Spuren (1988), Die Wunder von Little No Horse (dt. 2019), Die Rübenkönigin (1986) Liebeszauber (1984), Der Bingo-Palast (1994) und Geschichten von brennender Liebe (1996).

Die Handlung spielt in einem fiktiven Ojibwe-Reservat in North Dakota und legt wie die anderen Romane des Zyklus Augenmerk auf „fluide“ Figuren, die zwischen den Kulturen stehen, wie auch genderfluide Figuren, die Two-Spirits, die man als drittes Geschlecht ansehen könnte und die unter dem repressiven Einfluss der Weißen inzwischen nahezu verschwunden sind.

 

Inhalt

Father Damien Modeste, als Gottes irdischer Diener auf dem Außenposten eines Ojibwe-Reservats tätig, ist sichtlich vom Alter gebeugt, aber immer noch geistig rege. Im Laufe des Tages ermüdet er jedoch schnell und ist von Schwerhörigkeit und Arthritis geplagt. Der Pater hat über 80 Jahre hinweg immer wieder an jeden einzelnen Papst in Rom geschrieben, ohne je eine Antwort zu erhalten. Father Damiens Geheimnis bleibt Louise Erdrichs Lesern nicht lange verborgen. Wenn er seine Amtstracht ablegt, wickelt er stets auch die Bandagen um die Brüste ab; denn Damien ist in Wirklichkeit die leidenschaftliche Klavierspielerin Agnes Dewitt. Der Pater hat nicht etwa sein Geschlecht angeglichen, sondern als „sie-er“ denkt und fühlt Agnes, wird jedoch im Handeln stets zu Father Damien. Auf zwei Zeitebenen spielen sich die Ereignisse in „Little No Horse“ ab, beginnend mit Damiens Ankunft im Reservat 1912 und in der Gegenwart 1996. Agnes hat vor langer Zeit die Gelegenheit beim Schopf gepackt, Kleidung und Besitztümer eines toten Priesters zu übernehmen und in seine Rolle zu schlüpfen. Als ehemalige Organistin fällt es ihr nicht schwer, eine Messe zu lesen und die Beichte abzunehmen; auch wenn in mancher Situation ihr Nachholbedarf auf geistlichem Terrain deutlich wird.  Daran, dass jemand den echten Damien Modeste gekannt haben  kann oder dass die Ojibwe sie durchschauen könnten, mag Agnes lieber nicht denken. So wenig Agnes die Notwendigkeit reflektiert, Indianerstämme überhaupt zu missionieren und deren Kultur auszuradieren, so wenig ist ihr ihre Körpersprache als kräftige Bauersfrau bewusst und ihre Wirkung auf die Ojibwe.

Agnes habe ich als tragische Figur erlebt, die sich nicht bewusst ist, dass die Ojibwe Geschlechtsrollen nicht unverrückbar zuschreiben wie die Weißen, sondern dass jeder Stammesangehörige eine Rolle auszufüllen hat, die dem Überleben der Gemeinschaft dient. Stirbt ein Stamm z. B. nahezu aus durch die Krankheiten, die die Weißen eingeschleppt haben, kann das Überleben weniger Menschen davon abhängen, dass  Nahrung erjagt, Holz gehackt und Kranke gepflegt werden. Ob ein Mann die Rolle einnimmt, die vierte Frau eines Stammesoberhaupts oder eine unverheiratete Frau, ist dabei belanglos. Aus diesem Grund war die erfahrene Jägerin Mashkiigikwe für mich eine zentrale Figur des Romans, deren Rolle Agnes hätte stutzig machen müssen.

Erdrich erzählt von  der Grippe-Epidemie 1918, von erbitterten Clan-Fehden, korrupten Nonnen, Missbrauch, ihren Eltern gewaltsam entfremdeten Kindern und raffinierten Weißen, die sich das Land der Ojibwe unter den Nagel reißen. Am Lebensende müsste Father Damien eigentlich Abbitte leisten, dass er seine Gemeinde nicht vor Spekulanten schützen konnte – und der jeweilige Papst offenbar auch nicht.

 

Fazit

Louise Erdrich zeichnet wie in ihren vorhergehenden Romanen mit zarter Ironie  glaubwürdige, bodenständige Figuren, denen bizarre Dinge aus der Welt des Animismus zustoßen. Allein durch die Zahl der Personen und Identitäten erfordert  „Die Wunder von Little No Horse“ (engl. 2001) höchste Konzentration. Das Thema des dritten Geschlechts/der Two-Spirits könnte nicht aktueller sein als heute. Allerdings fehlt mir außer einer Personenliste gerade zum Geschlechtsrollen-Verständnis von First Nations Bonusmateriel im Buch für Neueinsteiger in Erdrichs Werk und Leser, die die ersten Bände des umfangreichen  Romanzyklus bereits vor 30 Jahren gelesen haben.

 

Kommentare

wandagreen kommentierte am 20. Dezember 2019 um 19:02

"glaubwürdige" Personen???? Ganz und gar nicht. Keine einzige.