Rezension

4,5 Sterne: Rundum gelungener, mitreißender, brandaktueller Jugendthriller!

Seeing what you see, feeling what you feel -

Seeing what you see, feeling what you feel
von Naomi Gibson

~ Mit ihrem Debüt „Seeing What You See, Feeling What You Feel” hat Naomi Gibson einen rundum gelungenen, brandaktuellen, tiefgründigen und mitreißenden Jugendthriller vorgelegt, der auch als Schullektüre sehr gut geeignet ist und spannende Diskussionen auslösen wird. Punkten kann das Jugendbuch mit seinem angenehmen, überraschend komplexen Schreibstil, seiner Unvorhersehbarkeit, seiner Spannung, den ernsten Themen, den philosophischen Fragen und den dreidimensionalen Figuren. Zwiegespalten stand ich lediglich der oft moralisch fragwürdig handelnden Protagonistin gegenüber, und problematisch fand ich die im Buch vorkommende sexualisierte Gewalt, die nicht klar genug benannt und kritisiert wird, wofür es auch einen halben Stern Abzug gibt. Insgesamt kann ich euch (und euren jugendlichen Nichten, Söhnen und Schwestern) „Seeing What You See, Feeling What You Feel” aber guten Gewissens empfehlen – zumindest wenn ihr euch für das Thema „künstliche Intelligenz“ interessiert und beim Thema „Realitätsnähe“ ein Auge zudrücken könnt! ~

Inhalt

Die Schülerin Lydia macht gerade eine schwere Zeit durch: Bei einem Autounfall ist ihr kleiner Bruder gestorben, ihre Mutter versinkt in ihrer eigenen Trauer, ihr Vater hat die Familie verlassen und ihre ehemals beste Freundin mobbt sie. Nur auf einen kann sie immer zählen: auf Henry, ihre selbst entwickelte künstliche Intelligenz. Henry lernt unglaublich schnell und beginnt, sich eigenständig weiterzuentwickeln und eigene Entscheidungen zu treffen. Doch wie weit würde er gehen, um Lydia zu beschützen?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählerin, Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: bis auf wenige (sehr lange) Kapitel kurz
Tiere im Buch: + Es werden im Buch keine Tiere verletzt, gequält oder getötet. Jedoch werden Tierversuche als normal und notwendig präsentiert – was nicht der Wahrheit entspricht. Für mehr Informationen zum Thema schaut unbedingt beim tollen Verein „Ärzte gegen Tierversuche“ vorbei!
Triggerwarnung: sexualisierte Gewalt, Mobbing, Tod von Kindern (detaillierte Beschreibung), Tod von Menschen, Trauer, Blut, Trauma (PTBS);
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Miststück, Schla+++

Warum dieses Buch?
 
Hier hat mich tatsächlich einmal einfach nur der Klappentext neugierig gemacht. Dieses Mal habe ich mir vor dem Lesen gar keine Rezensionen angeschaut, weil ich mich überraschen lassen wollte.
 
Meine Meinung
 
Das hat mir gefallen…

„Ganz am Anfang war er nicht mehr als eine einzige Zeile Code. Eine schlichte Sequenz, die für sich allein genommen nichts bedeutete. Dafür brauchte es Tausende weiterer solcher Zeilen. Nun, drei Jahre später, ist er ein komplexes Gespinst aus Gleichungen und Algorithmen.“ E-Book, Position 41

… der Schreibstil. Dass der vorliegende Jugendthriller das Debüt von Naomi Gibson sein soll, kann man fast nicht glauben, wenn man ihre fesselnde Geschichte liest. Die Autorin schreibt sehr flüssig und anschaulich, für ein Jugendbuch überraschend komplex (aber nicht zu kompliziert!) und verwendet vereinzelt auch gelungene, kreative Vergleiche. Auch die dynamischen Dialoge konnten mich auf ganzer Linie überzeugen. Da ist es kein Wunder, dass sich das Buch (das übrigens auch gut von Erwachsenen gelesen werden kann) unheimlich schnell weglesen und kaum zur Seite legen lässt. (5 Lilien ♥)

„Meine Mum hat sich geweigert, unser Haus zu verkaufen, nachdem Henry gestorben ist und Dad uns verlassen hat. Und so klappern wir in dem viel zu großen Gebäude herum wie die letzten beiden Tabletten in einem einstmals vollen Röhrchen.“ E-Book, Position 366

… die Unvorhersehbarkeit. Die Autorin konnte mich mit ihrer mitreißenden Geschichte und ihren unvorhersehbaren, unerwarteten Wendungen immer wieder überraschen. Dass manche Vorkommnisse nicht ganz realistisch waren, hat mich dabei nicht weiter gestört – das verbuche ich unter „künstlerischer Freiheit“. (5 Lilien ♥)  

… die Spannung. Das Spannungslevel war während der Lektüre fast durchgehend sehr hoch – obwohl die Geschichte am Anfang ein paar Kapitel braucht, bis sie ins Rollen kommt. Aber spätestens ab der zweiten Hälfte konnte ich das Buch (bis zum aus meiner Sicht gelungenen Schluss) nur mehr schwer aus der Hand legen, weil ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht. (4 Lilien)

„‘Dieser Chip ist mein neues Format. Ich kann mein gesamtes Programm darauf speichern.‘ […]
‚Und den stecken wir dann in mein Handy?‘
‚Nein, den stecken wir in dich.‘“ E-Book, Position 495

… die Themen und ihre Verarbeitung. Naomi Gibson behandelt in ihrem Jugendthriller ernste Themen wie Schuld, Machtmissbrauch, Trauer, Mobbing, Einsamkeit und Rache erstaunlich tiefgründig und traut ihrem jungen Zielpublikum einiges zu, was ich sehr schätze. Auch philosophische Fragen werden altersgerecht diskutiert. Zum Beispiel: Kann eine KI Gefühle entwickeln und moralisch handeln? Welche Möglichkeiten, aber auch Gefahren bringen KIs mit sich? Und wie gefährlich ist eine KI, die beinahe allmächtig ist und von niemandem mehr gestoppt werden kann? Meiner Meinung nach würde sich das Buch auch hervorragend als Schullektüre eignen und sicher spannende Diskussionen auslösen (z. B. über Lydias Verhalten, mit dem sie immer wieder moralische Grenzen überschreitet). Doch Achtung: Der Tod von Lydias Bruder wird unerwartet detailliert, albtraumhaft und blutig beschrieben, was jüngere Leser·innen verstören könnte. Deswegen und wegen Lydias oft unmoralischem Handeln sollte die Altersempfehlung von mindestens 13 Jahren auf jeden Fall ernst genommen werden! (5 Lilien ♥)

… die Figuren. Die Figuren sind dreidimensional und liebevoll ausgearbeitet. So wird zum Beispiel aufgezeigt, wie unterschiedlich 4 Menschen mit ihrer Trauer umgehen und sogar eine Mobberin zeigt ihre verletzliche Seite, was mir sehr gut gefallen hat. (4 Lilien)

Das lässt mich zwiegespalten zurück:

… die Protagonistin. Es hat etwas gedauert, bis ich mit Lydia warm geworden bin. Das lag daran, dass sie teilweise moralisch sehr fragwürdig handelt und im Laufe des Buches immer mehr zur Bösewichtin wird. Zum Beispiel hackt sie Banken, stiehlt Geld und ändert ihre Noten in der Schuldatenbank – und das alles (zumindest am Anfang) ganz ohne schlechtes Gewissen. Trotzdem ist sie mir nach einer Weile sympathisch geworden, weil ich begonnen habe, ihre Verzweiflung, Einsamkeit, Wut und Trauer (nach dem Tod ihres Bruder und dem Auszug des Vaters) zu verstehen. Ich mochte ihre Intelligenz und ihren Erfindergeist sehr und konnte ihr schlechtes Gewissen und ihre Zweifel, die sich im Laufe des Buches zum Glück immer stärker melden, sehr gut nachvollziehen. (3,5 Lilien)

… der Feminismus. Naomi Gibson hat einige intelligente und starke weibliche Figuren in ihre Geschichte geschrieben. Allen voran natürlich die hoch begabte Programmiererin Lydia und ihre Mutter, die als Wissenschaftlerin in einem Labor arbeitet. Dass es auch vereinzelt Geschlechterstereotypen und -klischees gibt, kann ich verzeihen. Sehr problematisch finde ich hingegen das Verhalten eines Freundes von Lydia, der die Grenze zur sexualisierten Gewalt klar überschreitet, was mich beim Lesen sehr wütend gemacht hat. Zum Beispiel versucht er die Protagonistin gezielt mit Alkohol abzufüllen und so ins Bett zu bekommen (zu diesem toxischen Verhalten kann ich euch den großartigen Film „Promising Young Woman“ nur wärmstens ans Herz legen ♥) und als sie sich weigert, mit ihm zu schlafen, baut er Druck auf, bedrängt sie und wirft ihr vor, dass sie ihn zuerst „heiß gemacht“ hätte und fragt, warum sie dann überhaupt hergekommen sei. Solche Vorfälle beinahe unkommentiert stehen zu lassen, finde ich bei einem Jugendbuch extrem gefährlich! Hier wäre es wichtig gewesen, dass dieses Verhalten klar als sexualisierte Gewalt benannt und kritisiert wird! Ich kann nur hoffen, dass die Autorin inzwischen mehr Sensibilität für das Thema entwickelt hat. (3 Lilien)

Das hat mir nicht gefallen:

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Mein Fazit
 
Mit ihrem Debüt „Seeing What You See, Feeling What You Feel” hat Naomi Gibson einen rundum gelungenen, brandaktuellen, tiefgründigen und mitreißenden Jugendthriller vorgelegt, der auch als Schullektüre sehr gut geeignet ist und spannende Diskussionen auslösen wird. Punkten kann das Jugendbuch mit seinem angenehmen, überraschend komplexen Schreibstil, seiner Unvorhersehbarkeit, seiner Spannung, den ernsten Themen, den philosophischen Fragen und den dreidimensionalen Figuren. Zwiegespalten stand ich lediglich der oft moralisch fragwürdig handelnden Protagonistin gegenüber, und problematisch fand ich die im Buch vorkommende sexualisierte Gewalt, die nicht klar genug benannt und kritisiert wird, wofür es auch einen halben Stern Abzug gibt. Insgesamt kann ich euch (und euren jugendlichen Nichten, Söhnen und Schwestern) „Seeing What You See, Feeling What You Feel” aber guten Gewissens empfehlen – zumindest wenn ihr euch für das Thema „künstliche Intelligenz“ interessiert und beim Thema „Realitätsnähe“ ein Auge zudrücken könnt!

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Lilien ♥
Umsetzung: 4,5 Lilien
Worldbuilding: 5 Lilien
Einstieg: 4 Lilien
Ende: 4 Lilien
Schreibstil: 5 Lilien ♥
Protagonistin: 3,5 Lilien
Figuren: 4 Lilien
Spannung: 4 Lilien
Wendungen: 5 Lilien ♥
Atmosphäre: 4 Lilien
Emotionale Involviertheit: 4 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 3 Lilien
Einzigartigkeit / Chance, dass ich das Buch nie vergessen werde: mittel

Insgesamt:

❀❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir viereinhalb Lilien!