Rezension

Die Spuren eines Amoklaufs

Neunzehn Minuten - Jodi Picoult

Neunzehn Minuten
von Jodi Picoult

Bewertet mit 5 Sternen

6. März 2007, Sterling ist in heller Aufruhr: Ein Amoklauf an der örtlichen High School hat zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert. Nur neunzehn Minuten hat es den siebzehnjährigen Peter Houghton gekostet, zehn Menschenleben auszulöschen und das hunderter anderer für immer zu prägen. Und noch während alle voller Wut und Trauer anklagend mit dem Finger auf den Täter und seine Familie zeigen, wagt niemandwirklich zu ergründen, warum Peter getan hat, was er getan hat. Denn wer sieht schon gerne die eigene Fassade bröckeln?

Jodi Picoult greift in ihrem Roman "Neunzehn Minuten" ein sehr heikles, weil auch oft umschifftes Thema auf: Amoklauf. Jemand dreht durch und schießt an einem öffentlichen Ort um sich. Das Horrorszenario schlechthin, hier besonders verschärft durch den Tatort Schule - ein Ort, an dem Eltern ihre Kinder in Sicherheit glauben, an dem eigentlich niemand mit etwas derartigem rechnet.
Aus wechselnden Perspektiven unterschiedlicher Charaktere - Josie Cormier, die den Schrecken nur durch Zufall überlebt hat, Alex Cormier, deren Mutter, die Richterin ist und zunächst den Prozess führen soll, Lacy und Lewis Houghton, die Eltern des Amokläufers, Patrick Ducharme, dem leitenden Ermittler in dem Fall, Peter Houghton als Täter selbst - lässt Jodi Picoult uns, die Leser, zunächst an der Tat und anschließend an den weitreichenden Folgen selbiger teilhaben. Ihre Charaktere wirken dabei überaus plastisch und lebensnah, jeder reagiert anders, aber größtenteils nachvollziehbar auf die Katastrophe. Es gibt jene, die in gerechtem Zorn Peter Houghton und seine ganze Familie verteufeln. Es gibt jene, die dennoch versuchen, in ihm den Menschen zu sehen, den sie vor der Tat kannten. Und es gibt einige wenige, die wirklich versuchen herauszufinden, was den Jungen zu dieser Wahnsinnstat veranlasst hat. 
Auf verschiedenen Zeitebenen (die Kapitel sind zu unterteilen in 'Geschehen nach der Tat' und 'Rückblicke auf die Zeit vor der Tat') fördert die Autorin nach und nach Peters Beweggründe zu Tage.
Ich habe selten einen so bewegenden, tiefgreifenden Schreibstil erlebt - ich konnte das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen, obwohl die Details, die Trauer der Angehörigen, das Trauma der ganzen Stadt oft schwer zu ertragen war. Ich bin durchaus nicht zart besaitet und bewege mich gerne im Thriller-Genre, aber beim Lesen von "Neunzehn Minuten" waren Gedanken an Winneden, Erfurt, Columbine & Co. eigentlich nicht zu verhindern. Während man die Opfer und Angehörigen bei der Verarbeitung (oder dem Versuch dessen) der Ereignisse begleitet, hat man die ganze Zeit den Gedanken im Hinterkopf: So was passiert tagtäglich. Man fragt sich, wie vielen Kindern und Jugendlichen wohl genau in diesem Moment ähnliches passiert wie Peter Houghton. Und ob auch sie das Potenzial zu so etwas haben.
Es ist ein sensibles Thema, aber Jodi Picoult hat sich heran gewagt und meiner Meinung nach absolut überzeugt. Geschickt verhindert sie eine reine Dämonisierung des Täters durch Perspektivenwechsel, weiß aber gleichzeitig auch gefühlvoll die Seite der Opfer und Angehörigen zu beschreiben.

Ein Roman, der nicht nur zum Nachdenken über unsere Gesellschaft anregt, sondern auch durch und durch unter die Haut geht - keine leichte Unterhaltung für zwischendurch, sondern durchaus ein Buch, das einem für eine Weile schwer im Magen liegt.