Rezension

Hautnah am Puls der Zeit

Die Arena -

Die Arena
von Négar Djavadi

Bewertet mit 5 Sternen

Djavadis zweiter Roman spielt in Paris und lenkt unseren Blick auf die Viertel, in denen Arbeiter und Migranten wohnen – übel beleumundet, von der Politik vergessen, aber, so wie im Fall Belleville, das absurd nah an den Glamourvierteln der Seinestadt liegt, einem langsamen Prozess der Gentrifizierung unterworfen. Benjamin Grossmann, die Hauptfigur des Romans, stammt aus Belleville, wo seine Mutter immer noch lebt. Er selbst hat es ganz nach oben geschafft – er leitet die französische Niederlassung von BeCurrent, einem Konkurrenten von Netflix. Da kommt ihm nach einem Besuch bei seiner Mutter sein Handy abhanden. Seine Versuche, es wiederzubekommen, lösen (analog zum Schmetterling, dessen Flügelschlag einen Sturm auslöst) eine Kette von Ereignissen aus, an deren Ende Belleville brennt und Menschen sterben. 

Der Roman punktet durch filmische Taktung und ein Tempo, das einen unweigerlich mitzieht. Die Handlung wird getragen von einem Strauß Figuren, die alle subtil miteinander verflochten sind, ohne sich je kennenzulernen. Jede Figur besitzt Tiefe und wirkt authentisch; Djavadi kennt ihr Personal. Alle machen sich die Ereignisse zunutze, um ihre Interessen voranzutreiben. Von der rebellischen Teenagerin, die sich auf Twitter profilieren will, bis zum opportunistischen Gründer eines muslimischen Fernsehsenders – alle haben ein Ziel, für das sie bedenkenlos Regeln brechen. Djavadi wirft einen scharfen Blick auf die französische Gesellschaft, in der die Migranten es am schwersten haben. Dabei zoomt sie auf die Macht der Bilder. Nicht nur auf den Bilderstrom der BeCurrent-Serien, der anstelle des eigenen Lebens konsumiert wird. Sondern vor allem auf die Bilder, die aus dem Zusammenhang gerissen, geschnitten und neu zusammengesetzt eine Fiktion bilden, die im Augenblick des Postens zur Wahrheit wird. Schon eine Woche später ist diese Wahrheit vergessen, hat aber eine Spur der Verheerung nach sich gezogen. Fiktion und Realität sind keine Gegensätze für die großen Medienkonzerne Twitter, Facebook und Co. Djavadi denkt dieses Prinzip zu Ende und zeigt, wohin es in letzter Konsequenz führen kann. 

Weitere Themen des Romans sind: Der gnadenlose Leistungsdruck in den Medienkonzernen. Der Zwang zur (chemischen) Selbstoptimierung, wenn man im Arbeitsmarkt nicht abgehängt werden will. Rassismus, Sexismus und Rechtsextremismus – auch bei der Polizei. Das Problem der fehlenden Väter. Und die Solidarität der Mütter - die der Täter und die der Opfer. Das alles ist so gut in die Handlung eingebunden, dass keine Überfrachtung entsteht. Ein Fresko der modernen Gesellschaft. 

Bei aller Action gibt es auch ruhige Passagen im Roman – wenn Djavadi philosophische Reflexionen einschiebt, zum Beispiel über die Aussicht von BeCurrents Panoramaterrasse, die dem Betrachter „ein grandioses Gefühl von Fülle und Macht“ verleiht, „vor allem aber das, privilegiert zu sein, über dieser herrlichen Stadt zu schweben, …“ Das erzeugt Atmosphäre und erlaubt kleine Verschnaufpausen in der Story, die ansonsten atemlos vorangetrieben wird. Moderato – crescendo – furioso – so heißen (völlig zu Recht) die drei Teile des Romans. Am Ende hat sich für alle Protagonisten etwas – teilweise dramatisch – verändert. Nur Paris, die Arena, in der alle darum kämpfen, ein kleines bisschen weiter nach oben zu kommen, erfindet sich täglich neu und bleibt sich doch gleich. Djavadis Paris schillert - und fasziniert wie eh und je.

 „Sam läuft langsamer. Vor ihr erstreckt sich, soweit das Auge reicht, das funkelnde Wasser des Canal Saint Martin. […] Zwar kennt sie in diesem Viertel jeden Winkel wie ihre Hosentasche, doch dieser Anblick erfüllt Sam mit einem intensiven und innigen Gefühl. Der Eindruck, dass all diese Schönheit sie von einer ungeahnten Last befreit, indem sie sie mit einem Teil von ihr verbindet, der so sanft pochend und weich ist wie der Schädel eines Neugeborenen.“

Ein großartiger Roman. Hart, klarsichtig, hautnah am Puls der Zeit. Lesen!