Rezension

"Kann das Subtile nicht auch tödlich sein?" – Dieses Buch packt den Leser!

EMOTION CACHING - Heike Vullriede

EMOTION CACHING
von Heike Vullriede

Bewertet mit 4 Sternen

Antriebslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Langeweile bestimmen den Alltag der jungen Kim. Ihr Zuhause ist trostlos und leer, die Mutter zeigt nur wenig bis kein Gefühl, ihr Vater ist schon lange verschwunden, sein Schicksal unbestimmt. Bei ihrer Clique, bestehend aus Nico, Benni und Lena findet sie eine Art Familienersatz. Gemeinsam lungern die vier bei Mehmets Dönerbude herum, immer auf der Suche nach Farbigkeit in ihrer tristen Eintönigkeit des Lebens. Sie alle tragen Ballast mit sich und streben nach dem Besonderen. Eines Tages hat Kim dann einen speziellen Einfall – es sind Emotionen, die sie vermisst, also warum nicht gezielt nach ihnen suchen, sie mit der Kamera einfangen und konservieren, um die innere Leere zu füllen. Die Idee ist geboren: Emotion Caching – Gefühle sammeln.
Und was scheinbar harmlos beginnt, wird zur Obsession für die vier jungen Leute. Wie eine Droge, von der man nicht genug bekommen kann, nimmt das Spiel immer perfidere Formen an und entwickelt eine gefährliche Eigendynamik.

"Wir brauchen explodierende Emotionen voller Leidenschaft: Freude, Trauer, Hass, Entsetzen, Verzweiflung ... Angst ..." (Zitat / S. 46)

Leseeindruck:

"Emotion Caching" ist mein zweiter Roman von Heike Vullriede (ihr Debüt "Der Tod kann mich nicht mehr überraschen" ist bereits bei mir eingezogen und wird in Kürze gelesen). Bereits "Notizen einer Verlorenen" hat mich stark beeindruckt, weshalb ich sehr gespannt auf ihr neuestes Werk war. Was verbirgt sich hinter dem eingängigen Titel und dem auffälligen Cover, das ein im wahrsten Sinne des Wortes Eyecatcher ist und mich sofort angesprochen hat?
Betitelt ist ihr Buch mit -Thriller- aber wie vermutet steckt mehr als nur der gewohnte Einheitsbrei dahinter. Wer ein Buch von Heike Vullriede liest, muss mit starken Gefühlen rechnen, in diesem Fall ist auch das wörtlich zu nehmen.

Die Idee hinter der Story ist besonders und das obwohl sie eigentlich naheliegt und leider sogar tagtäglich zu beobachten ist. Voyeurismus und der leichtfertige Umgang damit ist ein Phänomen, das in unserer heutigen Gesellschaft dank YouTube, Instagram, Twitter und Co. weit verbreitet ist. Egal ob Autounfall, Schlägerei oder das lustige Katzenvideo – es gibt Nichts, dass man nicht online finden kann. Jeder hat ein Smartphone und jeder knippst und filmt drauf los.
Nun, "Big Brother is watching you" heißt es so schön und jeden von uns kann es treffen, oft sogar ohne unser Wissen.
Doch das ist nur ein Grundgedanke, den die Autorin in diesem Buch aufgegriffen hat. Es geht auch um fehlgeleitete Jugendliche und den schmalen Grat, auf dem sie wandeln; um echte und vermeintliche Freundschaften; um Gruppendynamik; um harmlose Absichten und dem unkontrollierten Entgleisen dieser; um Meinungsbildung und Schubladendenken; um Zivilcourage und dem Unterlassen eben dieser und letztlich natürlich auch um Gewalt – psychischer und psychologischer.
Die Themen, die die Autorin in ihrer Geschichte miteinander verwoben hat, sprechen den Leser an, sind sie doch aktuell und stets präsent. Dennoch bleibt sie wertfrei und überlässt es dem Leser, Stellung zu beziehen und das eigene Tun zu hinterfragen. Das hat mir ausgesprochen gut gefallen.

Ihre Figuren baut Vullriede mit viel Feingefühl auf. Sie findet hierbei einen guten Mittelweg, lässt sich Zeit – schafft aber keine unnötigen Längen, treibt die Handlung voran – schärft gleichzeitig weiter die Konturen ihrer Charaktere. Gerade bei jugendlichen Protagonisten mit ihren Problemen der Pubertät ist es schwierig nicht in Klischees abzudriften, einige Male ist die Autorin haarscharf daran vorbeigeschlittert, hat aber den Bogen nicht überspannt und so die Glaubwürdigkeit gewahrt. Die Figuren sind überzeugend, greifbar und erschreckend real. Ihre Entwicklung ist im Rahmen der Handlung nachvollziehbar und unterliegt einem steten Fluss.
 
Die Herausforderung bei "Emotion Caching": Immer wieder bedarf es Pausen bei der Lektüre, um das Gelesene richtig wirken lassen zu können und zu verdauen. Und dennoch muss man schnell weiterlesen. Es ist wie bei einem Unfall – einerseits will man die Tragödie nicht sehen, andererseits will man aber auch stehenbleiben und hinschauen. Diesen Widerspruch empfindet man hier ständig und das kostet Kraft, löst die ganze Palette der Gefühle beim Leser aus. Es ist fast so, als spiegelte der Titel nicht nur den Inhalt, sondern direkt auch die Wirkung auf den Leser wider.

Der eingehende und bildhafte Schreibstil verstärkt die Wirkung des Inhalts noch zusätzlich. Vullriede packt den Leser mit Worten, rüttelt ihn auf, lässt ihn reflektieren und entlässt ihn dann völlig erschöpft aus der Geschichte. Hat man das Buch dann zugeschlagen, trägt man die Story noch eine ganze Weile mit sich, sie hallt nach und entfaltet erst später ihre volle Wirkung. Es gibt nur ganz wenige Autoren, die das bei mir schaffen – Heike Vullriede ist definitiv eine davon.

"Durch ihre Adern floss schon so lange kaltes Blut, dass sie nicht einmal wusste, wo und wann sie die Wärme gelassen hatte, die einen Menschen zu einem wirklich fühlenden Menschen machte." (Zitat / S. 19)

"Was Kim sich auch abrang, ihre Mutter Sofie blieb ein Eisberg, an dem Kims aufkeimende Gefühle langsam, aber unaufhaltsam aufrissen und schließlich untergingen. Kim war das auslaufende Schiff und aus Sofies Gesicht wehten ihr nüchterne, kühl berechnete Worte wie ein arktischer Wind entgegen." (Zitat / S. 50)

"Überall war sie mit dabei gewesen, hatte nichts wirklich getan und doch alles geschuldet." (Zitat / S. 278)

Fazit:

"Emotion Caching" ist ein in jeder Hinsicht besonderer Thriller, der eine interessante Geschichte spannend und schockierend realistisch wiedergibt. Dabei durchlebt der Leser eine Achterbahn der Gefühle und noch lange nach der Lektüre einen intensiven Nachhall von Emotionen.
Dieses Buch ist besonders und deshalb gebe ich 4 von 5 Sternen sowie eine uneingeschränkte Leseempfehlung.