Rezension

Leben im Paradies

Weil wir träumten -

Weil wir träumten
von Antonia Michaelis

Bewertet mit 5 Sternen

Sie lügen ja nicht“, flüstere Faly. „Es kommt nur darauf an, was man sieht. Reden wir nicht von Wahrheit. Wahrheit ist so … relativ.“ (S.370)

Die 16jährige herzkranke Emma kennt kein unbeschwertes Leben: zahlreiche lange Krankenhausaufenthalte mit OP’s, die gesundheitlichen Probleme, die soziale Isolation aufgrund der Krankheit, die Sorgen der Eltern und die geringe Lebenserwartung belasten sie sehr. Die Reise nach Madagaskar mit ihrer Urgroßmutter ist eine Flucht in ein Paradies, dass sie unbedingt erleben will, allen Risiken zum Trotz. Sie genießt die Schönheit der Natur und das besondere Quartier. Die paradiesische Fassade bekommt erste Risse als sie sich mit dem Mädchen Fy anfreundet, das in der Ferienanlage arbeitet. Fy ist auch 16 Jahre alt, bereits Mutter eines Säuglings und ihr Alltag ist von einem ganz anderen Überlebenskampf  geprägt als Emmas. Die beiden Mädchen freunden sich an, sie erzählen einander ihre Geschichte. Die Autorin lässt dies jeweils aus deren Perspektiven geschehen, so dass man als Leser einen besonders guten Einblick erhält. Fy‘s Schicksal ist unglaublich und lässt einem den Atem stocken, diese Not und Ausbeutung so direkt als Alltagsgeschehen geschildert zu bekommen, ist eindrücklich und bedrückend. Emma möchte nicht wegsehen, sondern helfen. 
Als sich die Ereignisse überschlagen und der Handlungsort vom Urlaubsressort in die Stadt verlegt wir, lernen wir mit Emma das Leben auf der Straße schmerzhaft realistisch kennen, Hunger, Armut, Gewalt, Missbrauch, Organhandel und vieles Düstere mehr erleben die Mädchen. 

Es ist der Autorin gelungen die Verhältnisse in „diesem Paradies“ eindrücklich und glaubhaft zu schildern. Ihre Ortskenntnis ist bei den Beschreibungen spürbar, sowohl die schönen als auch die schlimmen Seiten sind sehr bildhaft und regen das Kopfkino an. Emma, Fy, die Urgroßmutter Elise, aber auch die anderen Charaktere sind detailliert und liebevoll ausgestaltet und wirken authentisch. 
Sowohl die prekäre Situation in Madagaskar als auch die Probleme von Emmas Angehörigen werden realistisch verdeutlicht. 
Es ist eine unglaubliche Reise, auf die man sich mit diesem Buch begibt, die einem neue Blickwinkel eröffnet, zum Nachdenken und genauen Hinschauen ermuntert. 
Das Ende fand ich sehr gelungen und besonders, weit entfernt von einem Happy End, glaubhaft und trotz aller Tragik hoffnungsfroh. Ein schmaler Grad, der niemals in den Kitsch abrutschte und mit ein wenig einheimischer Magie angereichert wurde. Mir hat dieses emotionale Buch sehr gefallen, die vielfältigen Themen wurden gekonnt eingearbeitet und haben einen großen Nachklang hinterlassen. Eine Anleitung zum genauen Hinsehen.
Ein wichtiges Buch, dem ich viele Leser wünsche.