Rezension

Lebensbeichte

Der blinde Mörder - Margaret Atwood

Der blinde Mörder
von Margaret Atwood

Bewertet mit 4.5 Sternen

Margaret Atwoods Bücher zählen immer zu den Höhepunkten meines Lesevergnügens und das war auch bei diesem Buch nicht anders.

Die alte Iris Chase blickt auf ihr Leben zurück und schreibt es für ihre Enkelin Sabrina auf. Schonungslos ehrlich entlarvt sie die Lebenslügen ihrer Familie und offenbart einige lange gehütete Geheimnisse.

Aufgewachsen ist sie zusammen mit ihrer Schwester Laura in einem wohlbehüteten Haus, wohlhabend, mit Hauslehrern, die Mutter starb früh und der Vater hatte unter Alkoholproblemen zu leiden, seine Töchter interessierten ihn nur wenig. Mit 18 wird Iris an den reichen Unternehmer und Politiker Richard Griffin verheiratet, den sie nicht liebt, der ihr aber Sicherheit bietet. Es ist quasi eine Ehe zu dritt, denn Richards Schwester Winifred ist immer dabei und übt großen Einfluss auf Richard aus. Iris' Schwester zieht nach dem Tod des Vaters zu den Eheleuten, aber sie hat einen starken Freiheitsdrang und großen Gerechtigkeitssinn, deshalb arbeitet sie in Suppenküchen und Wohltätigkeitsvereinen. Irgendwann ist sie verschwunden.

Parallel zu Iris' Lebensgeschichte wird ein Roman abgedruckt, den Laura geschrieben hat und der nach ihrem Tod ein Kultbuch wurde. Eine Frau trifft heimlich ihren Geliebten an wechselnden Orten, dabei erzählt er ihr eine fiktive Geschichte von dem "Blinden Mörder". Man erkennt schnell, dass der Geliebte Alex Thomas ist, ein junger Agitator und Gewerkschaftler, der sich versteckt halten muss, weil er sich gegen die Macht der Unternehmer auflehnt. Beide Mädchen waren in ihn verliebt und haben ihn einige Zeit auf dem Dachboden des Hauses versteckt. 

Ebenso sind in das Buch einzelne Meldungen aus den Gesellschaftsseiten von Zeitungen eingestreut, die die gesellschaftliche Stellung der Familien Chase und Griffin beleuchten.

Das Buch strahlt sehr viel Einsamkeit aus. Jeder Mensch in dem Chase'schen Kosmos lebt für sich allein, kümmert sich um seine eigenen Probleme. Nur die Haushälterin und später ihre Tochter bringen Wärme in das Leben der beiden Mädchen. Die Geschichte der Familie Chase dagegen ist ähnlich wie bei den Buddenbrooks eine Geschichte vom Aufstieg und Fall. Der Niedergang beginnt schleichend, doch dann beschleunigt er sich und die lebensuntüchtigen Mädchen können ihn nicht aufhalten.

Die tragische Wendung am Ende des Buches hatte ich erwartet, sie macht das Buch perfekt.

Atwood spielt auch in diesem Roman ihre großen Stärken aus, ihre punktgenaue und kluge Beschreibung menschlichen Verhaltens, ihre präzisen und poetischen Schilderungen der Natur. Manchmal hätte ich mir einen schnelleren Fortgang der Handlung gewünscht, aber am Ende des Buches war dann doch alles richtig so, wie Atwood es geschrieben hat.