Rezension

Literarisches Meisterwerk

Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte -

Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte
von Tatiana Tîbuleac

Bewertet mit 5 Sternen

"In diesem Sommer haben wir uns stärker selbst zerstört als in all den Jahren zuvor, aber wir waren nie lebendiger gewesen."

Oh wow, WAS für ein Buch! Ich kann hier gar nicht wiedergeben, wie ergreifend dieses Buch und wie tief die psychologische Handlung reicht.

Die Geschichte beginnt mit einer unglaublichen, kapitellangen Hass- und Schimpftirade des jungen Aleksy auf seine Mutter, begleitet von obskuren Todeswünschen - denn er hasst sie, und zwar so richtig. Nie verheilte, emotionale Wunden aus Aleksys Kindheit haben tiefe Narben hinterlassen, die sich durch Wut und Gewalt den Weg an die Oberfläche bahnen. Und dann, nach vielen Jahren der Abscheu, reisen Mutter und Sohn zusammen in ein kleines Dorf inmitten von Frankreich - im Gegenzug dafür wird Aleksy immerhin ein Auto versprochen. Doch hier ändern sich die Umstände, denn in einem kleinen, schäbigen Mietshaus mitten in Frankreich findet Aleksy heraus, dass seine Mutter krebskrank ist und ihr letzter gemeinsamer Sommer bevorsteht. Ein brutales Carpe Diem beginnt, und damit auch ein hochemotionaler Sommer der Vergebung und der unausgesprochenen Worte zwischen Mutter und Sohn.

Das Buch ist ein Schlag in die Magengrube, voller Wut und lang angestautem Schmerz.
Abgelehnt und depressiv nähert sich Aleksy seiner Mutter an. Der Schreibstil, die Details, die Ehrlichkeit, jedes Wort ist sorgfältig ausgewählt. Es ist so direkt und eindringlich erzählt, dass das Buch kaum Platz zur Interpretation bietet.

Einige Kapitel sind nur eine Zeile lang, aber unbeschreiblich ausdrucksstark. Und durch diese ziehen sich ständige Reflexionen Aleksys auf dessen Mutters Augen durch das Buch, zum Beispiel: "Mutters Augen waren Narben im Gesicht des Sommers". Eindringlichst werden dadurch die Gefühle des Protagonisten verpackt, die aus einem ständigen emotionalen Kampf der Abscheu und Liebe resultieren - denn die grünen Augen der Mutter sind das Schönste an ihr. Die Augen sind der Spiegel der Seele, hierauf beruht das Buch. Und so ändern sich auch zunehmens Aleksys Empfindungen gegenüber seiner Mutter durch den wandelnden Ausdruck ihrer Augen. Und anhand dieser, sich durch Krankheit und gemeinsame auf-und-ab-Erlebnisse ständig ändernden Gefühlswelt der Mutter, verschieben und manifestieren sich ebenfalls die Gefühle von Aleksy gegenüber seiner Mutter.

Schmerzhaft und aufrichtig, ein Buch über Sehnsucht, Vergebung und Reue, über Verantwortung und dem Versuch, im letzten verbleibendem Sommer noch einmal das Glück beim Schopf zu packen. Eins der schönsten, emotionalsten und intensivsten Bücher, die ich je gelesen habe. Aus meiner Sicht ein Meisterwerk der Literatur und ein heißer Anwärter auf mein Jahreshighlight.