Rezension

Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt - Peter Stamm

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt
von Peter Stamm

Bewertet mit 4 Sternen

Mann und Frau. Zum Inhalt. Fragezeichen im Gesicht? Das ist hier Programm. Ich-Erzähler Christoph, Autor einer einzigen, seiner Geschichte, in den Fünfzigern, erzählt von seiner Geschichte mit Magdalena, Schauspielerin. Diese Geschichte ist vorbei. Oder? Er erzählt davon Lena, bald Dreißig, Schauspielerin, die zusammen ist mit Chris, Autor. Irgendwie ist das junge Paar die Wiederholung des älteren Paares, und irgendwie auch nicht. Er erzählt davon auch Chris, in Barcelona, wo Chris gar nicht sein dürfte, noch nicht.

„Wenn er ist wie Sie und ich wie Ihre Magdalena und wenn wir dasselbe Leben führen wie Sie beide, dann müssten doch auch unsere Eltern dieselben sein und unsere Freunde, die Häuser, in denen wir leben, die Inszenierungen, in denen ich und Ihre Magdalena aufgetreten sind, die Texte, die Chris und Sie schreiben. Dann müsste die ganze Welt sich verdoppelt haben. Und das hat sie nicht. Nein, sagte ich, das hat sie nicht. Es gibt Unterschiede, Abweichungen. Es sind die Fehler, die Asymmetrien, die unser Leben überhaupt erst möglich machen. Ich habe einmal mit einem Physiker gesprochen, der mir erklärt hat, das ganze Universum basiere auf einem kleinen Fehler, einem winzigen Ungleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie, das beim Urknall entstanden sein muss. Hätte es diesen Fehler nicht gegeben, hätten sich Materie und Antimaterie längst wieder aufgehoben und es existierte gar nichts.“ S. 81f.

„Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ konnte ich nur sehr langsam lesen, somit wurden die 160 Seiten zu einer viel umfangreicheren Lektüre. Am besten funktionierte das, wenn ich hinterher Zeit hatte für mich – irgendwann war das das Buch, das ich noch gelesen habe, bevor ich unter die Dusche ging oder die Wäsche gemacht habe oder kurz vorm Einschlafen (nicht so gut, ich lag gestern noch lange wach). Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, was würde ich anders machen? Wenn ich wüsste, was passiert, würde ich mich anders verhalten? Warum bleibe ich mit jemandem zusammen, entscheide mich für eine Tätigkeit? Wähle ich einen Brot-Job, den ich hasse, um eine Beziehung führen zu können, wo verbiege ich mich? Wo bin ich der Autor meiner Geschichte, wo nur Schauspieler für die Texte anderer? Ich MUSS aufhören, sonst schreibe ich hier ewig.

Der Text ist nicht einfach zu „verdauen“, ich komme mit dem Anfang klar, mit der Parallelexistenz von Christoph und Magdalena in Chris und Lena. Doch gerade, wenn ich mir dafür eine Erklärung zurechtgelegt habe, fächert der schweizer Autor Peter Stamm das noch weiter auf. Da gibt es noch einen alten Mann, es fällt mir am Ende wieder ein, dass ich von ihm zu Beginn gelesen habe und auch zwischendurch. Auch folgt der 50plus-Christoph dem jungen Paar, dann gibt es diese Hochzeit, die aber schon länger stattfindet, dann ist der Raum leer.

Ein Buch, das verwirrt, anregt, aufregt, in wunderschön unaufgeregter Sprache. Es wird erst in Verbindung mit dem Leser zu einer Geschichte. S. 121 „Ich glaube, das ist es, was ich an Büchern immer gemocht habe. Dass sie unabänderlich sind. Man muss sie gar nicht lesen. Es reicht, sie zu besitzen, sie in die Hand zu nehmen und zu wissen, dass sie immer so bleiben, wie sie sind.“ Nein, hier nicht.
Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen (Heraklit)

 

Ungeachtet meiner Lesezeit: wirklich? € 20,- für 160 Seiten HC? Ich hätte mir dann dafür doch ein Lesebändchen gewünscht und ein irgendwie passend gestaltetes Vorsatzblatt. Nur so als Anregung.

Kommentare

Naibenak kommentierte am 20. März 2018 um 09:25

Auch ich habe gestern Abend das Buch beendet und war erstmal sehr "irritiert" bzw. erregt... oder irgendwas dazwischen ;) Irre und faszinierend. Indem ich jetzt die eine oder andere Rezi lese, kann ich noch besser "verarbeiten" und "sortieren". Das ist echt hilfreich. Und deine Rezi ist großartig, mit tollen Zitaten, die auch mich berührt haben. DANKE! :)