Rezension

Solider Abenteuerroman vor historischer Kulisse

Der Kaffeedieb - Tom Hillenbrand

Der Kaffeedieb
von Tom Hillenbrand

Bewertet mit 4 Sternen

Gelungener Abenteuerroman vor historischer Kulisse des XVII Jh. Toll ausgearbeitete Figuren, gewiefter Plot, gekonnt erzählt!

21 September 1683. London. Ein Kaffeehaus in dem Obediah Chalon seinen morgendlichen Kaffee genießt (wie Engländer ihren Kaffee damals tranken, ist ein Thema für sich, wird später auch erläutert). Obediah ist ein ungewöhnlicher Held, keineswegs makellos und in jeder Hinsicht moralisch überlegen. Er ist ein Naturphilosoph, ein Virtuoso von etwa 27 Jahren, von dicklicher Statur, da er eher mit dem Kopf als mit den Händen zu arbeiten gewohnt ist. Das Lesen naturphilosophischer Traktate und das Experimentieren ist alles, wofür er sich interessiert. So manches, vor allem die Geschichte seiner Familie, die viele Katholiken in der englischen Provinz zu diesen Zeiten geteilt haben, hat ihn u.a. dazu getrieben, in London auf der Börse zu spekulieren (wie dies damals funktionierte wird auch eingängig dargestellt) und die gefälschten Wertpapiere als Sicherheit zu hinterlegen. Als eine Wette platzt, muss er aus London fliehen und sich in Amsterdam einen sichereren Unterschlupf suchen. Bloß da kommt er vom Regen in die Taufe. Vom mächtigen wie skrupellosen Konsortium VOC wird er auserkoren, Diebstahl von etwas unermesslich Kostbarem zu organisieren und durchzuführen. Die finanziellen Mittel werden gestellt.

Etwa die Hälfte des Buches beschreibt die Vorbereitungen und der Rest ist eine Reise voller Abenteuer in die Türkei, Hafen von Smyrna, von dort aus ins Landesinnere zum Berg, wo der Schatz Tag und Nacht bewacht wird, mit kurzem Zwischenaufenthalt in Neapel zu Karneval, und zurück nach Holland.

Besonders in der zweiten Hälfte wird es spannend. Konflikt auf Schritt und Tritt gibt es im gesamten Verlauf zw. allen Figuren, aber auf der Reise sind die Konflikte ergreifender, es geht um mehr: um den Erfolg der ganzen Expedition und oft ums Leben und Tod.

Die Figuren sind schon sehr unterschiedlich. Dies betrifft sowohl Obediahs Mannschaft, die recht vielfältig und international ausfällt: eine junge, schöne Italienerin als Schauspielerin und Verwandlungskünstlerin, ein italienischer General reifen Alters, der in der Türkei einige Zeit verbracht hat und sowohl der Sprache als auch der Mentalität und der Kultur mächtig ist, als Pendant zu ihm ein französischer Jüngling. Dazu kommen der französische Meisterdieb des königlichen Geblüts, den man erst aus dem Knast befreien muss, ein dänischer Schiffskapitän und der kleinadelige Engländer Obediah, der Kopf der Unternehmung. Es gibt später auch Wandler, i.e. jemand, der anders ist, als er zu sein scheint. Zum Schluss trifft man auch den französischen König Louis XIV und seine Höflinge, wohnt dem Bäckeraufstand in Paris bei, usw.

Für die Figuren konnte ich mich absolut begeistern. Sie kamen mir so lebendig und zum Greifen nah vor: jede hatte seine Vorgeschichte, eigenen Charakter, eigene Ziele. Sie agierten so authentisch, dass ich sie auch Tage nach dem Ende des Romans vor meinem geistigen Auge herumwandern sah.

Abenteuer, die sich in mehreren Ländern abspielen, bereiten besonders den Fans von historischen Romanen einige vergnügte Lesestunden.

Fundierte Geschichtskenntnisse, sowohl vom Orient als auch vom Okzident, waren erforderlich, um diese beachtliche Menge an Details, die das Leben in Europa und in der Türkei von 1683-1686 vor Augen der Leser lebendig werden lassen. Die Atmosphäre mit den Realien der damaligen Zeit kommt gut zur Geltung, und erst recht die politische Lage mit all den Interessenvertretern und deren Intrigen.  

Es gibt auch einige Überraschungen zum Schluss.

Was mich weniger begeistern konnte:

Vieles ist zwar clever eingefädelt: Man sieht, dass der Autor sich um bessere Darbietung Gedanken gemacht hat. Dennoch ist mir manches zu konstruiert vorgekommen. Z.B. In der Geschichte tauchen oft die Briefe auf, insb. die an „Durchlauchtigste und allerchristlichste Majestät“ Louis XIV von seinem Experten fürs Entziffern chiffrierter Briefe Rossignol. Anfang ist im Februar 1686, als Obediah durch seine Vorbereitungsaktivitäten für Geheimdienst interessant wird, und im Roman auf S. 63. Oft fassen diese Berichte die politische Lage zusammen und interpretieren das Agieren  Obediahs und seinen Weggefährten auf eigene, manchmal sehr abenteuerliche Art und Weise. Der Stil der Briefe ist schon authentisch, aber recht anstrengend. Diese Briefberichte, die über die gesamte Länge des Romans auftauchen, wie die darin enthaltenen Zusammenfassungen der vorherigen Ereignisse, ließen mich die Infoversorgung doch etwas eleganter wünschen.  Die Spannung flachte für mich ab. Im letzten Brief von Februar 1689 wird alles nochmals zusammengefasst.

Die Vorbereitungen in der ersten Hälfte waren mir stellenweise zu breit erzählt. Manche Themen, wie die Astrologie, wie sie zu den Zeiten in der naturphilosophischen Diskussion stand, hatten doch wenig mit dem Hauptthema zu tun. Auch von der europäischen Politik in Frankreich, England, Holland, Österreich, Spanien, Deutschland zu diesen Zeiten erfährt man jede Menge, denn Obediah landet zwischen all den Fronten. Die Darbietung war mir doch eine Spur zu klobig. Manches kam mir unnötig dramatisiert vor. Auch dass die Kernschlüsse und Zusammenhänge unbedingt dem Leser auf die Nase gebunden werden mussten, hat bei mir auf wenig Begeisterung gestoßen. Der Widersacher Obediahs hatte mir zu wenig Biss. Zum Schluss wurde damit etwas besser. Die Darstellung des eigentlichen Diebstahls kam mir etwas unlogisch vor, obwohl es eine ganz gute Idee insgesamt war. Für die o.g. „Vergehen“ ziehe ich einen Stern ab.

 

Obwohl es auch um die Liebe geht und es Liebesszenen, nicht unbedingt im gewöhnlichen Sinne der Romanzen gibt, sowie Aussagen zum Thema Liebe, ist es gewiss kein Liebesroman, eher ein Abenteuer vor historisch-politischer Kulisse.

Gut möglich, dass bestimmter Grad persönlicher Reife erforderlich ist, um in vollen Genuss der Geschichte zu kommen. Aber es ist alles eingehend erklärt worden.

Fazit: Ein guter Roman, auf jeden Fall solide Arbeit, eine enorme intellektuelle Leistung, die mir einige erfüllte Lesestunden bereitet hat. Ich vergebe gerne vier Sterne und eine Leseempfehlung für Fans historischer Abenteurerromane.

 

Kommentare

Brocéliande kommentierte am 15. Februar 2016 um 23:45

Ich stimme Dir in Deiner tollen Rezi insgesamt zu - und habe ebenfalls 4 Sterne vergeben und einen aus denselben Gründen wie Du es getan hast, abgezogen ;)

Jedenfalls eine intellektuelle literarische Herausforderung 'par excellence' ;))