Rezension

Vielschichtig und einfach fantastisch

Eine allgemeine Theorie des Vergessens - José Eduardo Agualusa

Eine allgemeine Theorie des Vergessens
von José Eduardo Agualusa

Bewertet mit 5 Sternen

„Hätte ich noch Platz, Kohle und freie Wände, könnte ich eine allgemeine Theorie des Vergessens schreiben….Alle Wände in dieser Wohnung sind mein Mund.“

Seit sie ein Kind war, hat Ludovica immer wieder Probleme, nach draußen zu gehen. Schon als Kind verließ sie das Haus nur unter dem Schutz eines Regenschirms, um zur Schule zu gelangen Nach einem ominösen Unfall manifestiert sich ihre Angst zu einer ausgewachsenen Agoraphobie. Seit dem Tod ihrer Eltern lebt sie bei ihrer Schwester Odete. Selbst als diese heiratet, zieht sie mit ihr von Portugal nach Angola, wo der Schwager Orlando  im Diamantengeschäft tätig ist. Nach der Revolution in Portugal brechen auch in Angola Unruhen aus. Der Unabhängigkeitskampf tobt, ihre Schwester und Orlando verschwinden beim Versuch nach Portugal zurückzukehren. Ganz auf sich gestellt verteidigt sich Ludovica gegen einen Einbrecher, tötet diesen und in der Folge entsagt sie der Welt. Sie mauert sich in ihrer Wohnung im letzten Stock des feudalen Appartementhauses „der Beneideten“ ein. Nur ihr Hund Fantasma bleibt ihr als Gefährte. 30 Jahre soll es dauern, bis Ludovica wieder Kontakt zu einem Menschen bekommt. Während all dieser Zeit wird sie zur Beobachterin , in ihrem eigenen Universum lebt sie reichlich organisiert, lebt von einer geringen Ernte ihres Gartens auf der Dachterrasse und ist sehr einfallsreich, wenn es sich um die Beschaffung von Lebensmitteln geht.

Personen, die Ludos Schicksal mitbestimmten ebenso wie diejenigen, auf die sie selbst und trotz ihrer Isolation Einfluss nimmt kommen und gehen in vielen kleinen Nebenhandlungen, bis zuletzt wie ein wunderbarer Zopf an Geschichten alles miteinander verbunden und verwoben ist.

Eine allgemeine Theorie des Vergessens ist eine wunderbar fantastische Geschichte. Immer wieder vermischen sich (vermeintlich?) reale Element mit Fiktion. Oft glaubt man selbst beim Lesen, einer Einbildung aufzusitzen. Wie Jose Eduardo Agualusa alle Handlungsstränge zu einem Ganzen verknüpft, - jede Geschichte für sich könnte gut als eigene Shortstory stehen -  zeugt von enormer Erzählkraft und- kunst. Keine der Figuren ist entweder schwarz oder weiß, gut oder böse, nicht der Henker, nicht der Geheimpolizist, vielleicht Ludos „Retter“  als einziger mit seiner kindlichen Unvoreingenommenheit. Ludo selbst überrascht immer wieder mit ihrem Pragmatismus. Szenen, die überraschen, erschrecken, wechseln mit Phasen von unendlicher Traurigkeit und dann wieder mit einer herrlichen Skurrilität ab.  Auch wenn dieses Buch nur knappe 188 Seiten hat, steckt es voller Schätze. Tanzende Flusspferde, mystische Wasserwesen, Straßenkinder und Folterknechte, dieses Buch ist einziges Wechselbad der Gefühle und ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas Vergleichbares gelesen zu haben.