Rezension

Wild und frei!

October, October -

October, October
von Katya Balen

Bewertet mit 4.5 Sternen

ACHTUNG! DIESE REZENSION BEZIEHT SICH AUF DAS GLEICHNAMIGE UND UNGEKÜRZTE HÖRBUCH, DAS HIER LEIDER NICHT GELISTET IST!

October lebt mit ihrem Vater in einer Waldhütte, im Einklang mit der Natur und fernab anderer Menschen. Geheimverstecke zwischen den Bäumen, Winterschwimmen im Teich, nächtliche Lagerfeuer und ein gerettetes Eulenküken: Das ist Octobers Welt. Bis zu ihrem elften Geburtstag, als ihr Vater einen schweren Unfall hat. Während er sich erholt, muss October zu ihrer Mutter in die Großstadt ziehen. Dort ist alles fremd: das sterile Haus, die Schule, die Frau, die ihre Mutter ist. October muss erst neue wilde Orte und Freunde finden, um zu erkennen, dass Veränderungen zwar Angst machen können, am Ende aber oft etwas ganz Wunderbares sind. (Verlagsbeschreibung)

Die 10jährige October lebt allein mit ihrem Vater in einem großen Waldstück. Selten nur fahren sie in die Stadt zum Einkaufen, versorgen sich ansonsten selbst oder tauschen Lebensmittel mit einem entfernten Nachbarn. Sie leben sehr naturverbunden, und wenn October nicht ihrem Vater bei seiner Arbeit im Wald hilft oder ihre täglichen Hausaufgaben macht, geht sie auf Schatzsuche, baut sich ein Geheimversteck oder erfindet Geschichten. In allem und vor allem fühlt sie sich wild und frei, und das soll auch für immer so bleiben!

Als October im Wald ein Eulenjunges findet, will der Vater es sich selbst überlassen, doch das Mädchen beschließt es zu retten. Dies ist leichter gesagt als getan, doch October gibt nicht auf - zum ersten Mal fühlt sie sich einem wilden Lebewesen gegenüber nahe. Als es an Octobers 11. Geburtstag zu einem schrecklichen Unfall kommt, muss ihr Vater für eine lange Zeit ins Krankenhaus, und es ist nicht sicher, inwieweit er sich wieder erholen wird. October kann nicht alleine im Wald bleiben, uns so zieht sie gegen ihren Willen zu ihrer Mutter - ausgerechnet in die riesige Stadt London.

Der Lärm, der Gestank, die Enge, die Hektik, die zahllosen Eindrücke - all dies überfordert October, die noch dazu von einer Unsumme an negativen Gefühlen überflutet wird: die Angst um ihren Vater, die Sorge um die kleine Eule, Schuldgefühle - und die schon lange schwelende Wut auf die Mutter, die sie und den Vater verlassen hatte, weil sie das Waldleben nicht länger aushielt. Damals war October gerade vier Jahre alt, und seither wollte sie mit der Frau, die ihre Mutter war, nichts mehr zu tun haben. Briefe der Mutter wurden weder gelesen noch beantwortet, Kontaktversuche abgelehnt, und wenn die Mutter im Wald auftauchte, nur um October zu sehen, rannte diese weg und kletterte auf einen Baum, wo niemand sie erreichen konnte.

Nun in London kann sie der Frau, die ihre Mutter ist, nicht länger ausweichen - aber sie kann ihr zeigen, dass sie mit ihr nach Möglichkeit nichts zu tun haben will. Schließlich ist sie frei und wild! Doch muss October erleben, dass es mit der Freiheit und Wildheit in London nicht weit her ist. Es gibt keine Bäume, auf die man klettern kann, der Garten hinter dem Haus ist ein einziger Witz, und alle Naturgeräusche werden vom Lärm der Stadt überlagert. Als klar wird, dass October ihre kleine Eule abgeben muss und als die Mutter verkündet, dass sie künftig auch zur Schule gehen wird und der häusliche Unterricht damit ein Ende findet, bricht die Welt des Mädchens vollends zusammen...

Erzählt wird der Roman ausschließlich aus der Innensicht Octobers, und dementsprechend intensiv nimmt der Hörer an ihrem Erleben und ihren Gedanken teil. Die Fantasie, die October in ihre zahllosen Geschichten einfließen lässt, das Glück der Freiheit, wenn sie durch den Wald stromert, die Begeisterung über kleinste Dinge, die ihre Welt bereichern, das Entsetzen über den Unfall, die Schuldgefühle, die Beklemmung im Krankenhaus, die Angst, nie mehr mit ihrem Vater im Wald leben zu können, die Wut auf die Mutter, die Schockstarre in der Schule, die Reizüberflutung durch die Großstadt, der Widerwille gegen all diese Veränderungen - all diese Gefühlen werden beim Hören nahezu spürbar, und man wünscht sich mit October zusammen einen Ausweg, wenn alles zu belastend wird.

Katya Balen schreibt nicht nur Bücher, sie ist auch Mitbegründerin von "Mainspring Arts“, einer gemeinnützigen Organisation, die es neurodiversen und autistischen Menschen ermöglicht, sich kreativ auszuleben. Die Art des Erlebens der 11jährigen October legt nahe, dass auch die kleine Heldin neurodivers ist, ohne dass dies explizit benannt wird. Dies gefällt mir sehr gut, da hier quasi nebenbei und eher unauffällig für mehr Toleranz für ein Anderssein geworben wird. Aber October erlebt auch, dass man um Veränderungen im Leben letztlich nicht herumkommt, und dass zur Freiheit auch der Mut gehört, sich diesen Veränderungen zu stellen - und dass daraus etwas ganz Neues und u.U. auch Wundervolles erwachsen kann. Diese Botschaft kommt nicht mit erhobenem Zeigefinger daher, sondern ergibt sich im Verlauf zwangsläufig - und in dem Tempo, das October selbst zulassen kann.

Ein wirklich besonderes Kinderbuch (Altersempfehlung: ab 10 Jahren), bildhaft und poetisch im Stil, was gerade auch in den zahlreichen von October erfundenen Fantasiegeschichten deutlich wird. Luise Helm liest die ungekürzte Hörbuchausgabe (4 Stunden 54 Minuten) versiert und in passender Betonung, geht dabei auch gekonnt auf die unterschiedlichen Gefühle der Protagonistin ein. Das Ende empfand ich zu meiner Befriedigung als überaus passend - kein Kitsch, aber trotzdem wild und frei!

Eine Empfehlung für all diejenigen, die etwas Besonderes hören wollen, etwas das in den Bann zieht und auch über das Ende hinaus nachhallt.

 

© Parden