Rezension

Eines meiner Jahreshighlights!

Liberty Bell - Johanna Rosen

Liberty Bell
von Johanna Rosen

Bewertet mit 5 Sternen

Old Town ist eine verschlafene Kleinstadt in Oregon, umgeben von Wäldern, Wäldern und ... ja, Wäldern. Für Ernesto und seine Freunde gibt es hier nicht allzuviel zu tun. Als Ronan ihnen dann ein Handyvideo von einem nackten Mädchen im Wald zeigt, braucht es natürlich nicht viel Überzeugungskraft um die anderen Jungs dazu zu überreden, sich das Mädchen genauer anzusehen.

Nach einem ersten Ausflug, bei dem die Jungs beobachten, wie das Mädchen eine "Ratte" tötet, beschließen sie ein zweites Mal dorthin zu fahren und mit ihr zu reden. Das Los hierfür fällt auf Ernesto. Doch das Mädchen fühlt sich in die Ecke gedrängt und greift ihn an. Dennoch ist Ernesto fasziniert von ihr. Als die Jungs erfahren, dass einer ihrer Freunde mit seinem brutalen Cousin noch einmal alleine in den Wald gefahren ist, macht Ernesto sich auf den Weg, um dem Mädchen zu helfen. Während er sich in der folgenden Nacht mit ihr anfreundet und herausfindet, dass hinter dem nackten, wilden Mädchen steckt, als sie geahnt haben, wird der Aufenthaltsort von Liberty Bell verraten. Fernsehteams und Krankenwagen rücken an und Liberty Bell muss die Einsamkeit der Wälder, die einzige Welt, die sie je gekannt hat, verlassen und wird in die Schattenwelt, wie ihre Mom sie nannte, geworfen. Doch hier lauern noch größere Gefahren als Autos und die moderne Technik. Denn Liberty Bells auftauchen bringt dunkle Geheimnisse ans Licht und das sonst so beschauliche Old Town wird zum Tatort in einigen Mordfällen. Welches Geheimnis umgibt Liberty Bell? Und wer ist bereit, dafür zu töten? Die Wahrheiten, die sich offenbaren werden, sind so dunkel und düster wie die Wälder Oregons und werden Liberty Bells Weltbild noch weiter auf den Kopf stellen, als es der erzwungene Aufenthalt im Krankenhaus schon tut ...

"Liberty Bell" ist wieder eines dieser ruhigeren Bücher. Zu Beginn der Vorstellung von Ernesto und seinen Freunden fühlte ich mich an Filme wie "Stand by Me" erinnert und diese Erinnerung überkam mich während des Lesens immer wieder (was absolut nicht negativ gemeint ist, ich liebe "Stand by Me", der heute leider viel zu selten im Fernsehen kommt). Die Ruhe, mit der die Geschichte erzählt wird, passt zu den ernsten Themen, die hier verarbeitet werden. Die Geheimnisse, die sich Stück für Stück lüften und am Ende in einem großen, düsteren Finale ans Licht kommen, sind bedrohlicher und beängstigender als vieles, was ich in den letzten Jahren gelesen habe.
Dabei ist die wirkliche Bedrohung lange kaum wahrzunehmen. Liberty Bells regelrechte "Gefangenschaft" im Krankenhaus, die Hilflosigkeit, die sie – und auch Ernesto – in dieser Situation spürt, hält einen in Atem und macht einem das Herz schwer, während sich im Hintergrund ein noch größere, beinahe unglaubliche Bedrohung aufbaut. Und das gruseligste daran: Es ist kein Fantasyroman, keine Dystopie. Das Grauen ist hier kein Monster, keine Regierung, die ihre Macht ausnutzt. Nein, der Roman spielt in der Realität. Er ist sehr real. Und dadurch so viel beängstigender.
Wir erfahren die Geschichte von Liberty Bell hauptsächlich aus Ernestos Sicht, Liberty Bell selbst sehen wir von außen, erhalten Informationen über ihr Aussehen, ihre Reaktionen, nicht jedoch ihre Gedanken, wenn sie sie nicht ausspricht. Passenderweise bleibt uns die titelgebende Figur dadurch ein wenig fremd, so wie es unsere Welt für sie auch tut. Sie passt sich recht schnell an (was wohl auch daran liegt, dass ihre Mom ihr stets Bücher aus der "Schattenwelt", wie sie die moderne Zivilisation nennt, mitbrachte, um ihr Lesen und Schreiben beizubringen), doch gibt es ständig und überall Dinge, die erst noch lernen und begreifen muss. Genauso ergeht es dem Leser mit ihr. Wir erfahren nach und nach Dinge über sie, lernen sie kennen und trotzdem wahrt sie noch einige Geheimnisse. Wie gesagt, ich finde das in dieser Situation sogar sehr passend und es ist mir tatsächlich erst gegen Ende des Buches aufgefallen – gestört hat es mich zu keiner Zeit.
"Liberty Bell" regt zum Nachdenken an, es wühlt auf und bewegt und lässt einen auch über das Ende hinaus nicht einfach so los. Natürlich kommt am Ende die Wahrheit ans Licht. Ob es jemand als Happy End bezeichnen kann, wage ich nicht zu beurteilen. Versteht mich nicht falsch: Das Ende der Geschichte ist gut und passend. Es ist das richtige Ende für diese Geschichte. Ich frage mich eher, ob es bei dieser Handlung, bei den Geschehnissen in diesem Buch überhaupt möglich ist, von einem Happy End zu reden.
"Liberty Bell" ist keine leichte Lektüre, die man mal eben am Strand lesen kann und alle paar Kapitel zur Seite legt. "Liberty Bell" zieht einen in seinen Bann, hält einen fest und lässt einen so schnell nicht mehr los. Selbst nach dem Lesen bleibt die Geschichte im Gedächtnis. Und das ist auch gut so. Denn die Geschichte hinter "Liberty Bell" ist wichtig und sollte uns allen im Bewusstsein bleiben. Dafür, dass es Johanna Rosen geschafft hat, bekommt das Buch von mir volle fünf Punkte.