Rezension

Arbeiteraufstände, Streiks, Architektur - und viel zu wenig Handlung

Die Tränen der Welt -

Die Tränen der Welt
von Ildefonso Falcones

Bewertet mit 2 Sternen

Umfangreicher, ambitionierter Roman im Barcelona des 1. Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts spielend, der jedoch nicht an Falcones berühmten Erstling heranreicht.

Ein ambitioniertes Werk ist er ganz sicher, der fünfte Roman des in Barcelona geborenen Katalanen Ildefonso Falcones de Sierra, bestverkaufter spanischer Autor historischer Romane, der mit seinem 2006 erschienenen Buch „Die Kathedrale des Meeres“ (im spanischen Original „La Catedral del Mar“) einen überwältigenden Erfolg hatte. Unzweifelhaft ist er auch hervorragend und geradezu akribisch recherchiert. Und dass der Autor, der neben seiner Schriftstellertätigkeit im Hauptberuf als Rechtsanwalt tätig ist, zu schreiben versteht, beweisen seine über fünf Millionen mal verkauften und in viele Sprachen übersetzten Bücher. Obwohl – nun ja, man kennt das, es gibt nicht wenige Werke, die von Buchhandel und Verlagen hochgejubelt werden und nicht das Papier wert sind, auf das sie gedruckt sind...

Dazu gehört Falcones' neuester Roman „Die Tränen der Welt“ (im Original „El pintor de almas“) gewiss nicht! Wiewohl ich bezweifeln möchte, dass ihm ein ebensolcher Erfolg beschert sein wird wie dem berühmten und zu Recht gelobten Erstlingswerk, das einfach alles hat, was einen überragenden historischen Roman ausmacht: Thematik und Handlung sind nicht nur fesselnd und in berückende Bilder umgesetzt, sondern auf eine Art miteinander verwoben, die ich nur als perfekt bezeichnen kann. Dies ist in dem über 700 Seiten starken 'Seelenmaler', um den Originaltitel direkt ins Deutsche zu übertragen, nicht der Fall. Zuviel hat der Autor gewollt, auf zu vielen Feldern hat er seinen Roman angesiedelt, diese auf eine Weise ausgeleuchtet, die mir zu detailliert und dementsprechend langatmig ist.

Arbeiteraufstände, nie endenwollende Streiks, immer mit denselben Forderungen und jedesmal, in den im Roman behandelten Jahren zwischen 1901 und 1909 jedenfalls, ins Leere führend, ja die sogar die ohnehin skandalöse Situation für den so großen Teil der Bewohner Barcelonas, die ums tägliche Überleben kämpfen mussten und unter himmelschreienden Bedingungen lebten, durch die folgenden rigorosen Sanktionen noch verschlechterten. Die Macht war in den Händen der reichen Bourgeoisie und des ebenso wohlhabenden und unbedingt und mit großem Hass zu bekämpfenden Klerus, vom brutalen Militär abgesichert. Ja, es erschüttert, das zu lesen, es macht wütend und dem Leser gleichzeitig bewusst, dass es schließlich jene mutigen, gar todesmutigen Kämpfer, ein Gutteil davon Frauen, waren, denen wir die Freiheit, die wir heute so selbstverständlich genießen, die umfassenden Rechte, derer wir uns erfreuen, die humanen Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen zu verdanken haben. Aber sind, um dies klarzumachen, tatsächlich 700 Seiten vonnöten? In epischer Breite, immer und immer wiederholt?

Und ja, „Die Tränen der Welt“ ist ein Barcelona-Roman, vielleicht auch, so kam mir immer stärker der Verdacht, hauptsächlich für leidenschaftliche Barceloneser mit brennendem Interesse für die Geschichte ihrer Stadt geschrieben, zu einer Zeit spielend, als Gebäude entstanden, die die Besucher der Großstadt am Mittelmeer noch heute in ihren Bann ziehen, von Ausnahmearchitekten wie dem frommen Antoni Gaudí, Domènech i Montaner und Josep Puig i Cadafalch geschaffen, die den katalanischen Modernismus verkörperten wie niemand sonst und zu eben jener Zeit arbeiteten, in der der Roman spielt und also stets aufs Neue Erwähnung finden. Wann immer dies geschieht, kann man sich auf seitenlange Auslassungen über das Spezialfeld der Architektur, dem offensichtlich des Autors ganze Leidenschaft gehört, gefasst machen. Irgendwann war mir das zuviel, zu speziell, so dass ich dann solche Passagen nur noch überflog. Wie die zahlreichen Aufstände, organisiert von Anarchisten und Revolutionären, durchziehen besagte Schilderungen den Roman und lassen die mehr oder minder episodenhafte Geschichte, die die Haupthandlung sein soll, aber zerrupft beim Leser ankommt, ein ums andere Mal in den Hintergrund treten, unterbrechen den Erzählstrang und lenken ab. Die Einheit von Hintergrund, Haupt- und Nebenhandlungen, die dem Autor wunderbar bei seinem Erstling gelang, will sich hier nicht einstellen.

Zudem bereiteten mir die beiden Protagonisten der eigentlichen Handlung, der Fliesenmaler Dalmau und die Köchin, Arbeiterin, vor allem aber Revolutionärin Emma, von Anfang an Probleme, und die Liebesgeschichte zwischen den beiden, die abrupt abbrach aufgrund einer Mischung aus seltsamen Missverständnissen, Hochmut, falsch verstandenem Stolz und Intrigen von Seiten zweier Straßenkinder, die durch die lange Geschichte geistern und viel Leid verursachen, ist so zäh und schließlich auch ärgerlich, wie das gesamte Buch. Allerdings gewann zumindest der Maler Dalmau, der so lange einem Irrweg folgte, sich korrumpieren ließ von der feinen Gesellschaft, und so seine Wurzeln, damit auch sich selbst, verlor, allmählich an Profil. Seine Auferstehung aus der Gosse, in die er sich durch seine Alkohol- und Morphinsucht selbst gestürzt hatte, mag zwar wundersam anmuten, vermag aber dennoch zu überzeugen.

Die beeindruckendste Figur in Falcones' Roman jedoch ist die alte Anarchistin Josefa, Dalmaus kluge, vom Leben gebeutelte, zu jedem Opfer bereite Mutter. Wie ein guter Geist ist sie der Fixpunkt des Romans, bereit, ihr lebenslanges Credo über Bord zu werfen, um den Ihren, wozu auch Emma, trotz der Trennung von Dalmau, stets gehört, aus bedrohlichen Situationen zu retten. Und allein ihretwegen wären „Die Tränen der Welt“ (warum, so frage ich mich, musste man der deutschen Übersetzung eigentlich diesen mir nicht einsichtigen Titel geben?) ein Roman, den es sich zu lesen lohnt, sind in ihr, der einfachen Frau aus der Unterschicht, doch alle Tugenden vereint, die es braucht, um menschlich zu bleiben in einer unmenschlichen Welt und unter den härtesten Bedingungen, wie denen, gegen die sich die Unterprivilegierten, mit den Frauen an vordester Front, hier im Roman und vielfach in der Geschichte der Menschheit, zur Wehr setzten. Mit der Figur der Josefa wurde dem Roman, der mich, noch ganz im Banne der „Kathedrale des Meeres“ und also mit einer hohen Erwartungshaltung begonnen, weitgehend enttäuschte und dem ich bloßes Mittelmaß bescheinigen muss, ein Funken Leben eingehaucht, die Art von Authentizität verliehen, die ich mir von einer wirklich anrührenden Geschichte immer erhoffe. Aber dieser eine Funke ist nicht hell genug, um sein Licht auszubreiten über den hier gerade besprochenen Roman, nicht einmal dann, wenn der Autor ein so großer, ein so begabter wie Ildefonso Falcones ist!