Rezension

bedrückend und gleichzeitig herzerwärmend

Eine Geschichte der Zitrone - Jo Cotterill

Eine Geschichte der Zitrone
von Jo Cotterill

Behutsam wird der Leser an die Bandbreite extremer Familiensituationen herangeführt und geht doch leichten Herzens aus der Lektüre heraus.

Die 11-jährige Calypso lebt seit dem Tod der Mutter allein mit ihrem Vater. Der arbeitet zur Zeit an einem Buch über Zitronen und nimmt sich wenig Zeit für seine Tochter. Er erwartet von ihr ein hohes Maß an Eigenständigkeit und Selbstbeherrschung. In der Schule freundet sie sich mit Mae an, die neu in die Klasse gekommen ist. Ihre gemeinsame Liebe zu Büchern eint die Mädchen schon bald.

 

Jo Cutterin gelingt ein Kunstwerk: Sie schildert aus Sicht einer jungen Betroffenen die Problematik der Parentifizierung, und zwar so einfühlsam, dass der Band ohne Weiteres auch jungen Lesern empfohlen werden kann. Die ganze Überforderung, die seelische Verwirrung, die ambivalenten Gefühle, auch das schlechte Gewissen, dem Vater gegenüber, die verdrängte Sehnsucht nach Kindsein-Dürfen, all das findet Ausdruck. Das kennzeichnende altersuntypische Verhalten irritiert zunächst und erklärt sich nach und nach. Wie andere Kinder in ihrer Situation nimmt Calypso ihr Schicksal an. Schlicht und ergreifend, weil sie abhängig ist und ihr keine Wahl bleibt. Hoffnung erwächst aus der Begegnung mit Mae, denn sie findet in ihrer neuen Freundin und deren Familie verlässliche und kompetente Hilfe. Glückliche und unbeschwerte Stunden bleiben die Ausnahme, doch der Weg führt spürbar in eine gute Richtung. 

Die Freundschaft der Mädchen ist herzerwärmend. Der hohe Stellenwert, den sie dem Lesen und Schreiben beimessen, beglückt. 

Ebenfalls erfreulich ist, wie ganz beiläufig Maes japanische Wurzeln erwähnt werden. Eben diese Beiläufigkeit verdeutlicht, wie unwichtig verschiedene Herkünfte sein können, wenn es um Freundschaft und Seelenverwandtschaft geht.

Das Buch ist nicht nur wunderbar geschrieben, es überzeugt ebenso durch eine sehr hochwertige Aufmachung. Der Zweig mit den Zitronenblüten in unterschiedlichen Stadien der Öffnung über den Kapitelüberschriften ist ein schönes Bild für die Entwicklung der jungen Heldin.

Diese hochgradig sensible Geschichte ist empfehlenswert für alle Menschen ab etwa zwölf Jahren. Behutsam wird man an die Bandbreite extremer Familiensituationen herangeführt und geht doch leichten Herzens aus der Lektüre heraus.