Rezension

Berührende Wanderung mit viel Charme

Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry - Rachel Joyce

Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry
von Rachel Joyce

Bewertet mit 5 Sternen

Rachel Joyce erzählt mit ihrem Roman "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry" eine sehr berührende Lebensgeschichte, die mir ganz wunderbar gefallen hat.

Der Rentner Harold Fry wollte an diesem Morgen eigentlich nur kurz zum nächsten Postkasten gehen, um eine knappe Antwort auf den Brief seiner ehemaligen Arbeitskollegin Queenie einzuwerfen. Seit Jahren hatte er Queenie nicht mehr gesehen und nun teilte sie ihm mit, dass sie Krebs habe und im Sterben liege. Durch eine zufällige Begegnung setzt Harold sich in den Kopf zu Queenie zu besuchen. Er will zu Fuß reisen, von Kingsbridge, ganz im Süden Englands, wo er lebt, nach Berwick upon Tweed, der nördlichsten Stadt Englands, wo Queenie in einem Hospiz liegt, und so versuchen den Krebs aufzuhalten. Queenie soll leben, bis er sein Ziel erreicht hat.
Zu Hause hält ihn ohnehin nicht viel. Sein Sohn David ist fort und seine Frau Maureen und er leben seit 20 Jahren nebeneinander her, haben sich nichts mehr zu sagen und schlafen sogar in getrennten Zimmern.

Angetrieben von seinem Vorhaben lässt Harold den Postkasten hinter sich und begibt sich völlig unvorbereitet in einfachen Segelschuhen auf eine fast dreimonatige Pilgerreise quer durch England. Dabei lernt er nicht nur viele fremde Menschen kennen, sondern beginnt auch über sich, seinen Sohn und seine Frau nachzudenken. Auch die zurückgelassene Maureen sieht ihren sonst so berechenbaren Mann mit zunehmender Dauer der Reise mit ganz anderen Augen...

Die Charaktere in "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry" haben sehr viel Tiefe und überzeugen mit jedem Detail ihrer ausgefeilten Persönlichkeiten. Nicht nur der stille Harold, der seiner beachtlichen Körpergröße zum Trotz in den letzten Jahren vor allem versucht hat möglichst unsichtbar zu sein, oder die etwas herrische Maureen, die all ihren Frust auf ihrem Mann ablädt, sind wundervoll ausgearbeitete Charaktere voller Ecken und Kanten, sympathischen und unsympathischen Eigenschaften, sondern auch viele Nebenfiguren bekommen besonders lesenswerte Auftritte in diesem Roman. Die Autorin spielt mit den Klischees, mit den Vorstellungen, die Harold und mit ihm der Leser beim ersten Eindruck von einer Figur haben, und überrascht dann immer wieder, wenn sie ihren Protagonisten hinter die Fassade blicken lässt. Besonders der verwitwete Nachbar der Frys hatte es mir als Nebenfigur angetan.

Während Harold sich mit der Wanderung abmüht, ohne die Route wirklich zu kennen, unvorbereitet, was seine Kleidung anbelangt und durch sein fortgeschrittenes Alter auch nicht mehr ganz fit, denkt er aber vor allem auch über sein bisheriges Leben nach, über die Zeit, als Maureen und er noch glücklich waren, über einzelne, oft sehr bedrückende Erinnerungen an seinen Sohn und auch über seine eigene Kindheit. Während Maureen zu Hause das gleiche tut, entwickelt sich diese hoffnungsfrohe(unreligöse)Pilgerreise zu einem Neuanfang für das Ehepaar, das so lange in stiller Wut und Enttäuschung miteinander gelebt hat.

Sprachlich ist dieser Roman ebenso wundervoll wie inhaltlich. Die Sprache ist sehr ruhig, sehr emotional und überzeugt auf ganzer Linie. Die Autorin versteht es kleine Hinweise zu geben, den Leser lange selbst rätseln zu lassen, was hinter der ganzen Geschichte steckt und erst am Ende überraschend und tief berührend alle Fäden zusammenzuführen. Die Handlung bleibt immer spannend, trotz Harolds langer und oft beschwerlicher Reise voller mitreißender Glücksmomente und bewegender Tiefschläge gibt es keine Längen, keine Langeweile beim Lesen. Man möchte dieses wunderbare Buch einfach nicht aus der Hand legen.

Fazit: Ein Buch voller Hoffnung, aber auch voller Traurigkeit. Zum Heulen schön. Wer sich auf diese besondere Reise einlässt und bei einer Achterbahn der Gefühle mitverfolgt, wie sich Harolds und Maureens Leben durch eine spontane Pilgerreise verändert, wird sicherlich nicht enttäuscht werden. Ich kann das Buch einfach nur empfehlen, es hat mich sehr berührt.